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Eröffnungsrede von Außenministerin Annalena Baerbock für die Konferenz der Außenministerinnen und Außenminister des Berliner Prozesses

21.10.2022 - Rede

Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt.

Diesen Satz haben wir seit dem 24. Februar, seit Russland seinen skrupellosen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, immer wieder gehört.

Als eine 1980 in Westdeutschland geborene Frau hatte ich das Privileg, nie Krieg erleben zu müssen.

Ich habe zum ersten Mal mit eigenen Augen bei meinen Reisen in die Ukraine gesehen, was Krieg bedeutet für Mütter, Väter, Schwestern und Freunde.

Als ich die Bilder der in Butscha ermordeten Zivilistinnen und Zivilisten, die zerbombten Häuser und Autos in Irpin gesehen habe. Als ich mit Frauen gesprochen habe, die anderen Frauen helfen, die vergewaltigt wurden.

Dabei habe ich gespürt, was viele von Ihnen und viele unserer Freundinnen und Freunde im Baltikum seit dem 24. Februar gespürt haben: Das könnten wir sein.

Viele von Ihnen hier im Raum haben die Schrecken des Krieges selbst erlebt.

Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn Mütter und Väter, Brüder und Schwestern nie wieder ihre Kinder oder Geschwister in die Arme schließen können. Sie wissen, wie Massengräber aussehen. Und Sie wissen, was es bedeutet, wenn man denkt: Es könnte meine Mutter sein, die in diesem Grab liegt.

Wenn wir die Folgen von Krieg verstehen wollen, sollten wir denjenigen zuhören, die ihn erlebt haben. Genau aus diesem Grund bin ich dankbar, dass Sie Ihre Stimme erhoben haben – in den vergangenen Monaten und in den vergangenen Jahren:

Zusammen haben die Länder des westlichen Balkans und die EU Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt. Seine Verstöße gegen das Völkerrecht, seine Kriegsverbrechen, seine hasserfüllten Lügen.

Diesen Monat haben wir als Teil einer Gruppe von 143 Staaten bei den Vereinten Nationen deutlich gemacht, dass Russlands Scheinreferenden null und nichtig sind – dass sie nichts anderes sind als illegaler Landraub.

Präsident Putins Russlands wird auf absehbare Zeit eine Bedrohung für Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent sein. Aber Putin wird es nicht gelingen, uns einzuschüchtern oder zu spalten. Im Gegenteil: Er hat uns enger zusammengebracht. Er hat unsere Stärke und unseren Willen, die Freiheit auf unserem Kontinent zu verteidigen, unterschätzt.

Unser Europa ist ein in Frieden und gegenseitigem Respekt für immer geeintes Europa. Und nun, da unsere europäische Friedensordnung in einer Weise angegriffen wird wie seit Jahrzehnten nicht, ist eins noch klarer geworden:

Der Frieden, die Stabilität und der wirtschaftliche Fortschritt, den wir in den Ländern des westlichen Balkans erreicht haben, sind von entscheidender Bedeutung – und daher ist es so wichtig, alle Länder der Region in die EU zu führen.

Das ist eine Priorität der Bundesregierung. Und genau darum geht es auf der heutigen Konferenz und im Berliner Prozess: alle Länder des westlichen Balkans in die Europäische Union zu bringen – und Frieden, Stabilität und Wirtschaftsfortschritt für zukünftige Generationen zu sichern.

Unsere Geschichte ist es wert ist, weitererzählt zu werden – insbesondere in Kriegszeiten. Seit Beginn des Berliner Prozesses 2014 hat er Menschen und Länder im westlichen Balkan miteinander verbunden – im wahrsten Sinne des Wortes.

Gemeinsam haben wir – und vor allem Sie – Straßen und Schienen gebaut, über die Lastwagen und Züge immer mehr Waren durch die Region transportieren.

Letztes Jahr haben Sie Roaming-Gebühren abgeschafft – was es billiger gemacht hat, Verwandte und Geschäftsparterinnen auf Reisen in der Region anzurufen. Einige Leute mögen darüber lachen, wenn man Roaming-Gebühren als ein Sicherheitsthema sieht. Aber unsere europäischen Partner und die EU-Institutionen hier am Tischen wissen: Solche Alltagsdinge sind extrem wichtig für Bürgerinnen und Bürger – wir haben gesehen, was das Ende von Roaming-Gebühren für die EU bedeutet hat.

Das Regionalbüro für Jugendzusammenarbeit (RYCO) hat Tausende junge Menschen über Schulaustausche und Seminare zusammengebracht – und wird das dank des neuen Jugendkulturfonds, den wir jetzt einrichten, bald auch über Kulturprojekte für Künstlerinnen, Musiker und Schauspielerinnen tun.

Heute, zum ersten Mal bei einer solchen Konferenz, sind unter uns Schülerinnen und Schüler, die an Austauschen über RYCO teilgenommen haben – ebenso wie Vertreterinnen und Vertreter des Zivilgesellschaftsforums des Berliner Prozesses.

Ich bin wirklich überzeugt: Junge Menschen und Akteure der Zivilgesellschaft wie Sie sind Vorreiter für Reformen und Aussöhnung in den Staaten des westlichen Balkans – und daher freuen wir uns darauf, dass Sie gleich direkt zu uns sprechen. Seien Sie herzlich willkommen!

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Sie alle haben dazu beigetragen, dass der Berliner Prozess zu einer so großen Erfolgsgeschichte geworden ist – und wir stehen kurz davor, ein weiteres, wichtiges Kapitel zu schreiben.

In von unserem Sonderbeauftragten für die Länder des westlichen Balkans, Manuel Sarrazin, geleiteten Verhandlungen haben die Regierungen der sechs Westbalkanstaaten sich verpflichtet, drei regionale Mobilitätsabkommen zu schließen.

Dank dieser Abkommen werden Menschen die Grenzen in den westlichen Balkanstaaten allein mit ihrem Personalausweis passieren können. Universitäten werden die Abschlüsse der anderen Universitäten anerkennen. Und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden Berufsabschlüsse aus der Region akzeptieren.

Das klingt vielleicht nach technischen Details – aber es sind historische Schritte. Historische Schritte, die das Leben von Menschen verändern.

Es bedeutet, dass junge Menschen aus Bosnien und aus dem Kosovo einander ohne Visa besuchen können. In der Europäischen Union machen wir das tagtäglich: Wenn ich meinen Freund oder meine Freundin abends sehen will – dann gehe ich einfach und treffe ihn oder sie.

Es bedeutet, dass Studierende aus Albanien mit ihrem Bachelor-Abschluss ihr Studium in Nordmazedonien fortsetzen können. Und es bedeutet, dass ein Architekt oder eine Architektin aus Serbien nach Montenegro gehen und dort arbeiten kann.

Diese Freiheiten machen den europäischen Binnenmarkt aus. Und zusammengenommen machen diese drei Abkommen den Weg frei für einen gemeinsamen regionalen Markt im westlichen Balkan.

Mit der Schaffung dieses Marktes, mit der Unterzeichnung der drei Abkommen auf dem kommenden Gipfel im November gehen Sie im EU-Beitrittsprozess einen wichtigen Schritt voran. Sie machen Ihren Bürgerinnen und Bürger das Leben leichter. Und Sie unterstützen Ihre Unternehmen darin, Handel und wirtschaftliches Wachstum in der ganzen Region anzukurbeln.

Ich gratuliere Ihnen zu diesem Durchbruch – und ich ermutige Sie, zügig alle erforderlichen Schritte umzusetzen, damit die Abkommen wie vorgesehen unterschrieben werden.

Aber lassen Sie uns hier nicht aufhören – lassen Sie uns nach noch mehr regionaler Zusammenarbeit im Rahmen des Berliner Prozesses streben.

Im Bereich Energie, grüne Transition und Klimakrise. Russlands Angriffskrieg hat gezeigt, dass wir den Übergang zu erneuerbaren Energien beschleunigen müssen – nicht nur, um die Klimakrise zu bekämpfen, sondern auch, um mehr Energiesicherheit zu schaffen. Wir haben gesehen, wie Energie als Waffe eingesetzt wird.

Bei meinem ersten Besuch in Kosovo im März habe ich den ersten großen Windpark des Landes eingeweiht, die bis dahin größte Auslandsinvestition. Seine Windräder liefern 10 Prozent der installierten Stromerzeugungsleistung von Kosovo und versorgen mehr als 100.000 Haushalte mit Strom.

Ich kenne die vielen Hindernisse für die grüne Transition in Ihren Ländern – wir kennen sie auch aus unserem Land. Aber ein Projekt wie dieses zeigt, was wir erreichen können. Mit politischem Willen. Mit regionaler Integration von Energienetzen und ausländischen Investitionen – und das ist genau das, was der Berliner Prozess, die Europäische Kommission und alle Ihre anderen Partner fördern.

Die Energiewende in Gang zu setzen, liegt in unserem gemeinsamen Interesse – denn von sauberer und sicherer Energie profitieren wir alle.

Das Gleiche gilt für die Erhöhung von Cybersicherheit.

Wir alle waren Zeuge der schweren Cyberangriffe gegen Albanien und Montenegro in diesem Jahr. Bedienstete in den Ministerien konnten wochenlang ihre dienstlichen E-Mails nicht nutzen; manchmal mussten sie auf Stift und Papier zurückgreifen, um die Anliegen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu bearbeiten.

Cyberangriffe kennen keine Grenzen – und wir sind nicht sicher, wenn unsere Nachbarn nicht sicher sind.

Daher möchte ich eine Partnerschaft zur Stärkung regionaler Cyberfähigkeiten durch den Berliner Prozess vorschlagen. Mit dieser Partnerschaft könnten wir Erfahrungen darüber austauschen, wie wir Krankenhäuser und Kraftwerke gegen Cyberangriffe schützen.

Deutschland und unsere Partner stehen bereit, um mit Fachwissen, Fortbildungen und Schulungen im Cyberbereich Unterstützung zu leisten – und gemeinsam an der Einrichtung regionaler Krisenreaktionsteams zu arbeiten, damit Sie sofort und grenzüberschreitend handeln können, wenn Hacker angreifen.

Diese Cyberpartnerschaft würde einmal mehr zeigen, wie der Berliner Prozess ganz konkret das Leben von Menschen verbessert – für ihren Wohlstand und ihre Sicherheit.

Aber natürlich hat dieser Prozess ein übergeordnetes Ziel: alle Länder des westlichen Balkans in die EU zu führen. Das wollen Ihre Bürgerinnen und Bürger, das wollen Sie, das will die EU – und das müssen wir gemeinsam leisten.

Ich verstehe Ihre Ungeduld angesichts der langsamen Fortschritte – wir haben das zuletzt als Außenministerinnen und Außenminister in Brüssel diskutiert. Aber zum Glück sind wir dieses Jahr vorangekommen:

Nach einer langen Zeit der Blockade wurden endlich die Erweiterungsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufgenommen. Die EU muss jetzt zu ihren Versprechen liefern. Ich habe von Ihnen gehört, wie viel persönlicher Mut nötig war, um so weit zu kommen. Und ich denke, genau darum geht es bei europäischer Führung – als Politikerin oder Politiker bereit zu sein, Risiken einzugehen für seine Gesellschaft und, am Ende, für Frieden auf unserem Kontinent.

Deshalb sage ich meinen europäischen Freundinnen und Freunden hier am Tisch und in der Europäischen Union: Jetzt muss auch die EU liefern zu Dingen, die wir vor langer Zeit versprochen haben – wie die Visa-Liberalisierung für Kosovo. Gerade letzte Woche hat die Europäische Kommission ihre Empfehlung von 2018, hier voranzuschreiten, erneut bekräftigt. Wir haben als EU ein Versprechen gegeben – wir müssen auch liefern.

Ebenfalls letzte Woche hat die Europäische Kommission die Länderberichte zu den Staaten des westlichen Balkans veröffentlicht. Auch wenn wir einige ermutigende Fortschritte sehen, zeigen sie, dass die meisten Länder bei Reformen, wie der Bekämpfung von Korruption und der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, noch nicht weit genug sind.

Ich rufe Sie alle auf, Reformen im Interesse Ihrer Bürgerinnen und Bürger zu beschleunigen. Wir alle wissen, dass Korruption tiefer geht als nur in Bürokratien – sie schadet der Identität ganzer Länder. Daher gehört Korruptionsbekämpfung hoch auf die politische Agenda.

Und ich möchte drei zentrale Punkte unterstreichen:

Erstens: Die Menschen in Bosnien und Herzegowina haben diesen Monat bei wichtigen Wahlen abgestimmt – herzlichen Glückwunsch! Nun ist es genauso wichtig, dass die Republika Srpska politische Blockaden und ihre separatistische Politik beendet – das ist im Interesse aller Menschen in Ihrem Land. Um mit der EU-Beitrittsperspektive voranzukommen, muss mehr getan werden, um die Anforderungen bei den Reformprioritäten der EU zu erfüllen. Vor diesem Hintergrund werden wir uns die Empfehlung der Europäischen Kommission zum Kandidatenstatus von Bosnien und Herzegowina genau ansehen. Ich denke, gemeinsam können wir bei diesen wichtigen Themen vorankommen.

Zweitens: Die ungelöste Situation zwischen Kosovo und Serbien sorgt für ständige Spannungen – sei es im Zusammenhang mit Nummernschildern oder Stromlieferungen. Wir können uns das nicht länger leisten. Es bremst die beiden Länder und die gesamte Region aus. Wir alle wissen, dass ein umfassendes Abkommen, das eine vollständige Normalisierung bewirkt, eines Tages erreicht werden muss. Warum also diesen „einen Tag“ immer weiter in die Zukunft verschieben? Die Bundesregierung unterstützt die Bemühungen des EU-Sonderbeauftragten Lajcak uneingeschränkt. Und wir erwarten mehr Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten.

Drittens: Ich ermutige Serbiens neu gewählte Regierung nachdrücklich, sich stärker an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU auszurichten. Das betrifft insbesondere die Sanktionen gegen Russland. Und wir sehen konkreten Schritten Serbiens zu Anpassungen bei seiner Visapolitik erwartungsvoll entgegen. Menschenschlepper gefährden das Leben und die Sicherheit von Menschen – gegen sie vorzugehen ist ein Ziel, das uns alle eint.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,

der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt – befeuert durch Hass und Nationalismus. Doch die Erfahrungen der Staaten des westlichen Balkans zeigen, dass der Krieg nie das letzte Wort haben wird.

Ja, es ist schmerzhaft, die Wunden der Vergangenheit zu heilen, sie bleiben für Generationen. Fortschritte auf dem Weg zur europäischen Integration waren langsam. Und echte Aussöhnung braucht Zeit.

Aber der Weg, für den Sie sich entschieden haben, ist der Weg in die Zukunft. Und wie ich gesagt habe: Diese Zukunft zu gestalten, liegt in den Händen von uns Politikerinnen und Politikern. Dafür sind wir von unseren Bürgerinnen und Bürgern gewählt worden. Nicht dafür, uns in schwierigen Situationen zu verstecken. Sondern dafür, voranzugehen, unsere eigenen Karrieren zu riskieren – für Frieden, Freiheit und die Zukunft unserer Bürgerinnen und Bürger und besonders der jungen Generation.

Diesen Weg in die Zukunft haben Sie gewählt. Deshalb sind wir hier heute als Europäerinnen und Europäer beim Berliner Prozess: Für eine europäische Zukunft, die es Ihnen und Ihren Kindern ermöglicht, in Freiheit und Frieden zu leben. Ich bin überzeugt, dass wir gemeinsam diese Zukunft aufbauen können.

Der Krieg mag zurück in Europa sein, aber er wird nicht hier bleiben.

Vielen Dank, dass Sie heute hier sind.

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