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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock anlässlich des Festakts zum 25-jährigen Bestehen des Römischen Statuts (Langform)

18.07.2023 - Rede

„Es schmerzt mich, die Welt in diesem Zustand zu sehen.

Aber nichts dagegen zu tun, es nicht zu versuchen, wäre verwerflich.“

Das sind die Worte des letzten überlebenden Chefanklägers der Nürnberger Prozesse, Benjamin Ferencz, der im April im Alter von 103 Jahren verstorben ist.

Sein ganzes Leben lang trat er dafür ein, den Opfern grausamster Verbrechen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und eine Welt auf der Grundlage der Macht des Rechts zu bauen.

Ferencz fand, sein Leben sei Beleg dafür, dass Fortschritt hin zu einer solchen Welt allen Rückschlägen zum Trotz möglich ist.

Er wies darauf hin, dass Politikerinnen, Diplomaten, Juristinnen und die Zivilgesellschaft in Schlüsselmomenten der Geschichte das Völkerrecht vorangebracht und an neue internationale Gegebenheiten angepasst hatten.

Die Annahme des Römischen Statuts vor 25 Jahren war ein solcher Schlüsselmoment der Geschichte.

Mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ist die Weltgemeinschaft eine Verpflichtung eingegangen:

Den Opfern wird Gerechtigkeit widerfahren.

Die Täter werden zur Verantwortung gezogen.

Und die Weltgemeinschaft wird nicht wegschauen, wo immer schwerste Völkerrechtsverbrechen begangen werden.

Für mich als deutsche Außenministerin kommt dem IStGH unter den internationalen Institutionen eine besondere Bedeutung zu.

Mein Land, Deutschland, hat unmenschliche Angriffskriege entfesselt und den grausamsten Völkermord begangen – denen Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Uns kommt daher eine besondere Verantwortung zu, dafür zu sorgen, dass solche Verbrechen nie wieder geschehen – dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Aus diesem Grund ist Deutschland zweitgrößter Geber des IStGH.

Aus diesem Grund freuen wir uns, Vorschläge für die Wahl zum Gerichtshof einzureichen, etwa unsere Kandidatin Dr. Ute Hohoff, die mich heute begleitet.

Und aus diesem Grund werden wir unser nationales Strafrecht noch weiter mit dem Statut in Einklang bringen.

Deutsche Gerichte sind mit Verfahren zu völkerrechtlichen Verbrechen, die vom sogenannten „Islamischen Staat“ und Vertretern des Assad-Regimes begangen wurden, vorangegangen.

Aktuell arbeitet Deutschland daran, sexuelle Sklaverei genau im Sinne des Statuts zu einem innerstaatlichen Straftatbestand zu machen.

Die Opfer dieser Verbrechen werden das Recht bekommen, an den Verfahren teilzunehmen und sich so Gehör zu verschaffen.

Wieder und wieder hat der Gerichtshof den Mut bewiesen, den Unsichtbaren, den Schutzbedürftigsten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – und ich möchte all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihren unermüdlichen Einsatz zugunsten der Schwächsten, für ihre Professionalität und für ihre Unabhängigkeit danken.

Von Beginn an war das Römische Statut – genau wie das internationale Strafrecht insgesamt – als fortlaufendes Projekt angelegt.

Die internationale Gemeinschaft hat immer wieder gezeigt, dass sie in den von Benjamin Ferencz beschworenen „Schlüsselmomenten der Geschichte“ handlungsfähig ist – auch wenn es nicht immer schnell ging.

So zum Beispiel bei der strafrechtlichen Verfolgung sexualisierter Gewalt.

Während der Balkankriege und in Ruanda wurden Tausende Frauen und Mädchen vergewaltigt – wie so viele vor ihnen in anderen Konflikten.

Wie oft mussten Frauen überall auf der Welt hören, dass Vergewaltigung von jeher ein Nebenprodukt des Krieges sei, dass sie in Konfliktzeiten regelmäßig vorkäme, dass ihnen kaum Rechtsmittel zur Verfügung stünden.

Endlich aber nahmen sich der IStGhJ und der IStGHR dieses unerträglichen Zustandes an. Sie sprachen Urteile für Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus.

Und im Römischen Statut sind Verbrechen sexueller Gewalt ausdrücklich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit kodifiziert.

Was die Schutzbedürftigsten betrifft, so hat der Gerichtshof auch Kindern mehr Gerechtigkeit gebracht.

„Sie waren neun, elf, dreizehn Jahre alt.

Sie können weder den Schrecken vergessen, den sie empfunden haben, noch den Schrecken, den sie über andere brachten.

Sie können den Lärm ihrer Maschinengewehre nicht vergessen, sie können nicht vergessen, dass sie getötet haben.“

So beschrieben die Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs bei der Eröffnung des ersten Verfahrens 2009 das Grauen, das Kinder, die in eine Miliz rekrutiert worden waren, erlebt hatten.

In diesem Verfahren verurteilte der Gerichtshof den Mann, der für die Rekrutierung von Kindern verantwortlich war, zu 14 Jahren Haft.

Darüber hinaus lud der Gerichtshof erstmals in der Geschichte des Völkerrechts Kinder als Opferzeugen in einem internationalen Verfahren.

Jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter:

Seit Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben russische Behörden Tausende ukrainische Kinder nach Russland und in von Russland besetzte Gebiete deportiert.

Sie haben sie aus Kinderheimen und Schulen verschleppt, aus Ferienlagern, in die ihre Eltern sie geschickt hatten.

Haben wir eine Vorstellung davon, wie sie sich die Väter und Mütter dieser Kinder fühlen?

Nicht zu wissen, wo sie sind.

Sich Sorgen zu machen, ob es ihnen gut geht.

Zu fürchten, dass sie irgendwann ihre Eltern nicht mehr erkennen.

Dass der IStGH seinen Haftbefehl gegen Präsident Putin gezielt auf die Deportation ukrainischer Kinder abgestellt hat, rückt die im Krieg Schutzbedürftigsten ins Zentrum.

Der russische Krieg gegen die Ukraine bringt uns an einen weiteren, in Ferencz‘ Worten, „Schlüsselmoment der Geschichte“.

Ein ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat ist in das Hoheitsgebiet seines Nachbarn eingedrungen und versucht, ihn seiner imperialen Vorherrschaft zu unterwerfen.

Anstatt die UN Charta zu schützen – wie es Russlands Verpflichtung als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates ist – verletzt Russland die Kernprinzipien dieser Charta.

Ich bin überzeugt davon, dass das einen Moment darstellt, in dem gilt, woran Benjamin Ferencz uns erinnert: „ ... nichts dagegen zu tun, es nicht zu versuchen, wäre verwerflich“.

Denn wenn wir darauf nicht reagieren, wenn die internationale Gemeinschaft Russlands Angriff mit Straflosigkeit beantwortet, wenn Russland, als Nichtunterzeichner des Römischen Statuts für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine niemals belangt werden kann – dann wird unsere Welt zu einem Ort, an dem alle Staaten in Angst vor ihrem größeren Nachbarn leben.

In einer solchen Welt möchte ich nicht leben.

Niemand von uns möchte in einer solchen Welt leben.

Wir stehen in der Verantwortung, es zu versuchen.

Mit vereinten Kräften nach Wegen zu suchen, die Lücke zu schließen, um all jene zur Rechenschaft ziehen zu können, die sich des schwersten aller Verbrechen, des Verbrechens der Aggression schuldig gemacht haben.

Wir wollen das tun für Russlands Krieg – und für alle andere zukünftigen Kriege, wo immer auf der Welt.

Als das schlimmste aller Verbrechen öffnet das Verbrechen der Aggression die Tür zu den anderen Kernverbrechen im Römischen Statut: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.

Wie ich später noch in einem Side Event ausführen werde, tritt Deutschland deswegen für eine Reform des Römischen Statuts dahingehend ein, die Zuständigkeit des IStGH um das Verbrechen der Aggression zu erweitern.

Damit bringen wir die Dinge wieder in Bewegung und machen weiter, wo wir in Kampala noch nicht erfolgreich waren.

Ich denke, dass die Überprüfungskonferenz des Römischen Statuts 2025 die Gelegenheit bietet, sich die Änderungen von Kampala erneut anzuschauen und weitere Schritte zu gehen – auch mit Blick auf andere Reformprojekte.

Ich höre jene, die sagen, dass das keine Lösungen für die aktuelle Lage bringt.

Deshalb – als Teil eines zweigleisigen Ansatzes – unterstützt Deutschland auch ein internationalisiertes Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine – denn wir können Straflosigkeit für Russlands Krieg nicht hinnehmen, während wir auf Änderungen des Römischen Statuts warten.

Und ich höre auch jene, die fragen: Ist eine Reform des Römischen Statuts der Mühe wert?

Aber was wäre geschehen, hätten Benjamin Ferencz und die übrigen Ankläger in Nürnberg gesagt: Die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen der Nazis ist zu anstrengend?

Welche Botschaft hätten wir an die Frauen auf dem Balkan und in Ruanda ausgesandt, hätten wir ihnen gesagt, dass Vergewaltigungen in Kriegszeiten hingenommen werden müssen?

Was hätte es für die neun, elf und dreizehn Jahre alten Kindersoldaten bedeutet, hätten die Ankläger des IStGH ihnen gesagt, eine Anhörung von Kindern käme nicht infrage?

Welches Signal würde an die Ukraine, an die Welt gesendet, käme der größere Nachbar mit dem Einmarsch in ein anderes Land einfach so davon?

Nichts zu tun, es nicht zu versuchen, wäre verwerflich.

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