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Russland vor den Wahlen - Modernisierung à la Putin?
Einführungsworte des Koordinators für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit, Andreas Schockenhoff, bei den 2. Berliner „Debatten zur Modernisierung Russlands“ am 26. Oktober 2011 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin
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Lieber Herr Fücks,
lieber Herr Gontmacher,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie bei den zweiten Berliner „Chodorkowskij-Debatten“ zu begrüßen. Fünf Wochen vor den Duma-Wahlen ist uns Veranstaltern besonders wichtig, über dieses Format Anschluss an den aktuellen Diskurs der russischen Politik- und Wirtschaftsexperten zu erhalten. Nach dem angekündigten Rollentausch des „Tandems“ steht dabei natürlich die Frage im Mittelpunkt, ob und in wie weit nach einer Rückkehr von Wladimir Putin ins Präsidentenamt eine nachhaltige Modernisierung Russlands möglich sein wird.
Ich gebe zu, dass ich mir Sorgen um die Entwicklung Russlands mache. Vor rund drei Jahren versprach Präsident Medwedew die „erste Modernisierung in Russlands Geschichte, die auf demokratischen Werten und Institutionen beruhen“ würde. Wie in den 80er Jahren schien dies eine Ära des „neuen Denkens“ zu eröffnen, ein neues „Gelegenheitsfenster“ - für Russland selber, aber auch für unsere Beziehungen zu Russland. Im Vorfeld dieser Duma- und Präsidentschaftswahlen stellt sich die Frage, ob noch die Chance einer Modernisierung unter demokratischem Vorzeichen besteht.
Nicht nur im Westen, vor allem in Russland selbst wachsen die Zweifel, ob das Land den nötigen Neuanfang schaffen wird. Bis heute habe die Modernisierung nicht einmal begonnen, sagen Sie, Herr Gontmacher, und sprechen schon lange von einer „systemischen Krise“ des Landes. Der heutigen Führung gehe es im Grunde nicht um Modernisierung, kritisiert auch Michail Gorbatschow, sondern nur um die Bewahrung des Status Quo. „Es geht keinen Schritt vorwärts - im Gegenteil“, erklärte er kürzlich in einem Interview. Dies, das merke ich bei meinen Besuchen und Gesprächen, denken heute viele Menschen in Russland.
Die Anzeichen, die Anlass zur Besorgnis geben, sind unübersehbar. Am sichtbarsten ist, dass Russland in fast allen internationalen Indices weiter zurückfällt, dass die Wirtschaft in ihrer Rohstoffabhängigkeit gefangen bleibt, dass die Kapitalflucht in diesem Jahr bereits bei mindestens 50 Milliarden US-Dollar liegt.
Sorge bereitet mir aber auch die innere Entwicklung des Landes. Alle Umfragen zeigen, dass die Unzufriedenheit in der russischen Gesellschaft gegenüber den herrschenden Eliten wächst, ohne dass Alternativen zu erkennen wären. 70 Prozent der Menschen sehen keinerlei Erfolge in der Präsidentschaft Medwedews; 70 Prozent wünschen sich, dass bei den nächsten Wahlen die Option, „gegen alle“ zu stimmen, wieder eingeführt wird und fast 50 Prozent sehen bereits die Vorboten einer zweiten Welle der Wirtschaftskrise; 22 Prozent sind grundsätzlich bereit, das Land zu verlassen, bei den jüngeren Jahrgängen sind es sogar 40 Prozent!
Sorge macht mir, dass vor allem die neue russische Mittelschicht ihre Interessen im heutigen politischen System nicht repräsentiert sieht. Studien zeigen, dass diese stetig wachsende Schicht immer mehr auf Werte wie Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftliche Selbstorganisation und Innovation setzt. Politischer Wettbewerb und transparente Wahlen wären der beste Weg, um diese Gruppen, die vielleicht wichtigsten gesellschaftlichen Reformkräfte, in den politischen Entscheidungsprozess einzubinden. Stattdessen drohen Intransparenz und eine weitere Verengung der Partizipationsmöglichkeiten die Kluft zwischen der „Macht“ und dem aktivem Teil der Gesellschaft zu vertiefen.
Das Grundproblem scheint mir, dass es in Russland auch heute keinen Modernisierungskonsens gibt. Im Gegenteil, unter den Eliten und in der Gesellschaft gibt es bis heute im Gegenteil einen Konsens für die Erhaltung des Status Quo, also gegen eine Modernisierung! Auch wenn das allgemeine Gefühl um sich greift, dass es „kein weiter so“ geben kann, wünscht eine Mehrheit bisher keine Veränderungen. Zu tief sitzt das „Perestrojka-Syndrom“, wie Fjodor Lukjanow es nennt, zu tief die Angst vor jedem ruckartigem „Umbau“, der für die meisten Menschen bis heute mit Chaos und Unsicherheit verbunden sind. Wenn also das Mantra der Modernisierung auch von Putin beschworen wird, scheint es in Staat und Gesellschaft selbst immer weniger Rückhalt für umfassende innere Reformen zu geben.
Wie soll Russland einen Neuanfang schaffen, solange die Angst vor Veränderungen größer ist als die Angst vor Stillstand und Stagnation? Dies ist für mich das Kernproblem der Modernisierung Russlands heute.
Meine Hoffnung gründet sich auf zwei Entwicklungen: Erstens scheint es mir, dass die erste Welle der Wirtschaftskrise doch auch in Russland für viele bestätigt hat, dass ein modernes Staatswesen die Probleme der globalen Welt nicht einseitig durch Beschlüsse und Gesetze „von oben“ lösen kann. Auch wenn der Rhetorik von Präsident Medwedew zu wenig Dynamik und greifbare Fortschritte gefolgt sind, hat sie doch eine breitere Diskussion darüber eröffnet, dass Russlands Modernisierung eine aktivere „Selbstorganisation“ der gesellschaftlichen Kräfte erfordert. Auch Medwedews jüngste Vorschläge, die nächste Regierung auf eine breitere Grundlage zu stellen, unter Einbeziehung von Vertretern kommunaler und regionaler Selbstverwaltungen wie auch der Zivilgesellschaft, scheint in diese Richtung zu weisen. In seiner Rede vor Vertretern der Partei „Einheitliches Russland“ verwies er ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer besseren Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft. Aber wie realistisch ist diese Perspektive?
Auch Wladimir Putin hatte nach seinem Amtsantritt sein Ziel erklärt, „Bedingungen zu schaffen, die die Konsolidierung einer echten Zivilgesellschaft im Land fördern, die ein Gegengewicht zur Staatsmacht bildet und sie kontrolliert“. Unter seiner „Vertikale der Macht“ wurden jedoch im Zuge der „orangenen Revolutionen“ die Arbeitsbedingungen für einzelne und lokale Initiativen „von unten“ systematisch erschwert. Auf dem jüngsten Parteitag sprach Ministerpräsident Putin nun ausdrücklich davon, dass alles getan werden müsse, um „lokale Selbstständigkeit, Selbstorganisation, Freiwilligkeit, das aktive Engagement gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen in der regionalen und munizipalen Entwicklung zu unterstützen“. Lassen diese Aussagen ein neues Verständnis für die Notwendigkeit von Engagement und Innovation „von unten“ erkennen? Und wenn ja: mit welchen Folgeriungen können wir rechnen bzw. welche können wir erhoffen?
Meine zweite Hoffnung gründet auf der „Revitalisierung“ - wie der Präsident der Gesellschaftskammer Ostrowskij sagt - von bestimmten Teilen der russischen Zivilgesellschaft. Noch handelt es sich um Einzelbewegungen und Initiativen am Rande der Gesellschaft, doch das Spektrum und die Vielfalt ist schon jetzt beeindruckend. Vor allem zeigt das breite Engagement zur Bekämpfung der verheerenden Waldbrände 2010, wie schnell der Funke überspringen kann. Eine Studie der Permer Bürgerkammer bestätigt, dass gerade im Zuge der Brände in Russland ein neues Potential für eine spontane und effektive Freiwilligenkultur gewachsen ist.
Wir können es nicht oft genug betonen: ein politisch und wirtschaftlich modernes und international konkurrenzfähiges Russland ist für Deutschland und die EU von grundsätzlichem Interesse. Für diese Modernisierung ist ein offener Dialog mit den gesellschaftlichen Reformkräften Russlands eine wichtige Voraussetzung. Deshalb hoffe ich, dass es in unserer Zusammenarbeit mit Russland gelingt, die „Revitalisierung“ von Teilen der russischen Gesellschaft für die Entwicklung des Landes zu nutzen. Wenn Russland auch unter Putins Führung auf Modernisierung setzen will, muss die zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit deshalb ein Schlüsselbereich für die Zusammenarbeit bleiben! Gerade dieser Bereich der Modernisierungspartnerschaft, der auf offizieller russischer Seite nur „nolens volens“ mitgetragen wird, muss stärker als bisher in alle Bereiche der Kooperation mit Russland einbezogen werden.
Ich bin gespannt zu hören, wie unsere russischen Gäste auch zu unseren Überlegungen stehen und freue mich auf die heutigen Debatten!