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„Russland nicht in die Knie zwingen“
Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview mit dem Spiegel über Verhältnis Deutschlands und der Europäischen Union zu Russland. Erschienen am 20.12.20147.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview mit dem Spiegel über Verhältnis Deutschlands und der Europäischen Union zu Russland. Erschienen am 20.12.20147 (Spiegel 52/2014).
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Herr Steinmeier, Sie sind politisch mit der Ostpolitik von Willy Brandt sozialisiert worden. Was heißt das für Ihre Außenpolitik?
Ich fühle mich dem Erbe der Ostpolitik in höchstem Maße verbunden. Die Bedeutung der Ostpolitik, für die Willy Brandt viele Jahre lang Feindseligkeiten und unfaire Angriffe ertragen hat, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Ohne sie hätte die Mauer keine Risse bekommen.
Egon Bahr, der Architekt der Ostpolitik, findet, dass die Bundesregierung in der Ukraine-Krise zu hart mit Russland umgegangen ist. Wer ist der Erbe von Willy Brandt, Sie oder Egon Bahr?
Die SPD führt keinen Erbschaftsstreit. Es war Willy Brandt selbst, der gesagt hat, dass „jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht“.
Hat die Ostpolitik heute nur noch historische Bedeutung?
Wir können Geschichte nicht festhalten, und sie wiederholt sich auch nicht. Aber wir können versuchen, aus ihr zu lernen, und das, was gut und richtig war, in anderen historischen Lagen nutzen. Feste Verwurzelung im Westen und Offenheit gegenüber Russland gehören zusammen. Das ist der bis heute gültige Lehrsatz der Ostpolitik Willy Brandts, an dem ich auch in diesen Zeiten, in denen die damaligen bipolaren Gewissheiten des Kalten Krieges einer neuen Unordnung Platz gemacht haben, unsere Politik ausrichte.
Und jetzt ist nicht die Zeit, auf Russland zuzugehen?
Egon Bahr weiß aus unseren Gesprächen, dass ich mir so wie er ein gutes, nachbarschaftliches Verhältnis zu Moskau wünsche. Deshalb arbeite ich mit den Möglichkeiten, die wir haben, Tag für Tag daran, dass die Ukraine-Krise überwunden wird und dann eine andere, bessere Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen wieder möglich wird.
Ostpolitik bedeutete, unter schwierigsten Bedingungen gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Warum gelingt das heute nicht?
Sicherheit in Europa ist ohne Russland nicht möglich, Sicherheit für Russland nicht ohne Europa. Deshalb müssen wir die beschädigte europäische Sicherheitsarchitektur wieder in Ordnung bringen. Aber man darf nicht vergessen, dass auch damals die Zeit erst reif sein musste. Das hat von 1961, dem Jahr des Mauerbaus, bis zu den Ostverträgen auch fast ein Jahrzehnt gebraucht. Ich hoffe, dass Ehrgeiz auf beiden Seiten besteht, schneller Schritte aufeinander zuzugehen.
Bislang sieht es nicht so aus, als wäre Moskau in dieser Frage besonders ambitioniert.
Entspannung kommt nicht von selbst und lässt sich nicht befehlen. Fortschritte kann es nur geben, wenn beide Seiten daran ein Interesse haben. Das Interesse unterstelle ich – auch auf der russischen Seite. Das notwendige Vertrauen dafür muss wieder aufgebaut werden. Dafür brauchen wir einen russischen Beitrag.
Die Ostpolitik war eine der größten Erfolgsgeschichten der Sozialdemokratie. Ist das ein Grund dafür, dass sich viele in Ihrer Partei so schwertun mit Kritik an Russland?
Nicht nur Sozialdemokraten meinen, dass die Ostpolitik das feindschaftliche Verhältnis zum Nachbarn Sowjetunion aufgebrochen hat. Gerade in Ostdeutschland haben die Menschen in Erinnerung, dass die Rote Armee nach 40 Jahren Aufenthalt in der damaligen DDR friedlich und ohne einen einzigen Schuss deutschen Boden verlassen hat. Der Ukraine-Konflikt ist ein herber Rückschlag. Das schmerzt mich nicht weniger als andere. Aber das kann nicht dazu führen, dass wir über eine Verletzung des Völkerrechts am nächsten Tag zur Tagesordnung übergehen.
Es gibt den Appell „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, den auch prominente Sozialdemokraten unterschrieben haben. Dort ist von einer „unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung“ die Rede, die durchbrochen werden müsse. Fühlen Sie sich angesprochen?
Die deutsche Außenpolitik hat es nicht an Einsatz mangeln lassen, um die Spirale der Gewalt zu beenden. Seit der Eskalation auf dem Maidan in Kiew haben wir wieder und wieder versucht, dafür zu sorgen, dass die Situation nicht völlig außer Kontrolle gerät. Dazu gehörten, die OSZE einzuschalten, eine Kontaktgruppe einzurichten und unendlich viele Gespräche mit der ukrainischen Seite und der russischen Seite, nicht zuletzt die Außenministertreffen in Berlin. Das alles war die Voraussetzung dafür, dass überhaupt Direktkontakte zwischen Russland und der Ukraine möglich geworden sind, die dann immerhin zu der Vereinbarung von Minsk geführt haben.
Die Unterzeichner des Appells fürchten, dass die westlichen Sanktionen die Krise noch verschlimmern. Die Lage ist ernst genug: Der Rubel ist im freien Fall, die russische Wirtschaft im Niedergang. Haben Sie nicht die Sorge, dass das ganze Land destabilisiert wird, wenn Europa die Sanktionen nicht lockert?
Die Sorge habe ich. Deshalb bin ich gegen ein weiteres Drehen an der Sanktionsschraube. Wer Russland wirtschaftlich in die Knie zwingen will, irrt gewaltig, wenn er glaubt, dass das zu mehr Sicherheit in Europa führen würde. Ich kann davor nur warnen. Kapitalflucht und ausbleibende Investitionen sind der Preis des Vertrauensverlusts aus der Krise, den Russland jetzt zahlt, beides hatte aber bereits vor den westlichen Sanktionen eingesetzt. Zusammen mit dem dramatischen Rubelverfall und den steil fallenden Energiepreisen ist das eine handfeste Wirtschafts- und Finanzkrise, die sicher auch innenpolitische Wirkung entfalten wird. Es kann nicht in unserem Interesse sein, dass diese völlig außer Kontrolle gerät. Das sollten wir bei unserer Sanktionspolitik im Blick haben.
Sie selbst haben lange auf eine Modernisierungspartnerschaft gesetzt. Haben Sie sich Illusionen über Putin gemacht?
Wenn Chancen nicht genutzt werden, liegt das selten nur an einem. Wir haben in den besseren Tagen lange vor der Ukraine-Krise auf beiden Seiten nicht genügend dafür gearbeitet, mehr zu entwickeln als nur die Wirtschaftsbeziehungen. Zu vieles, vom Jugendaustausch über den Kulturaustausch bis hin zur Zusammenarbeit im Gesundheitswesen und in der Wissenschaft, ist einfach liegen geblieben.
In besagtem Aufruf heißt es, man müsse die Furcht der Russen verstehen, „seit Nato-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden“. Hat der Westen Moskau in die Enge getrieben?
Die Ukraine und Georgien waren enttäuscht, dass der Bukarest-Gipfel ihnen nicht den Weg zur Mitgliedschaft eröffnet hat. Das Treffen in Bukarest wurde ja gerade von dem Vorwurf begleitet, man sei gegenüber Russlands geopolitischen Bedürfnissen zu nachsichtig.
Sie haben in Ihrer Antrittsrede vor einem Jahr die Frage gestellt, ob nicht die EU bei den Verhandlungen mit der Ukraine über ein Assoziierungsabkommen Fehler gemacht und so die Krise mitverursacht habe. Haben Sie mittlerweile eine Antwort?
Die EU hat die Frage selbst beantwortet. Jetzt redet man mit Russland darüber, wie sich das EU-Ukraine-Handelsabkommen mit bestehenden Abkommen der Ukraine mit Russland vereinbaren lässt. Es war ein Fehler, das nicht schon vorher zu tun.
Ist eigentlich Realpolitik für Sie ein positiv besetzter Begriff?
Außenpolitik, die sich nicht auf eine ehrliche Analyse der Realität gründet, ist fehleranfällig und gefährlich. Deshalb hat James Baker jüngst bei seinem Besuch in Berlin gesagt: „Realität sollte in der Außenpolitik kein Schimpfwort sein.“ Die Einteilung der Welt in Freund und Feind, gut und böse, schwarz und weiß führte uns in den letzten Jahren ein ums andere Mal auf Abwege, besonders folgenreich im Jahr 2003 bei der militärischen Intervention im Irak. Eine Außenpolitik, für die nur noch Wunsch und Vorstellung relevant ist, ist keine gute Außenpolitik.
Es gibt Leute, etwa Ihr Parteifreund Matthias Platzeck, die Russland eine Einflusszone zugestehen wollen, die an der Grenze von EU und Nato endet. Ist das gute Realpolitik? Die russischen Einkreisungsängste, aber auch der nach wie vor große Einfluss Moskaus in Osteuropa sind ja eine Realität.
Wir haben die weltpolitische Zäsur nach dem Fall der Mauer und die daraus folgende veränderte Weltordnung mit vielen neuen Spielern noch nicht vollständig angenommen. Das gilt für uns, das gilt auch für Russland. Wir fallen immer noch in die Interpretationsmuster zurück, mit denen wir groß geworden sind, die aber gar nicht mehr passen.
Was heißt das konkret?
Russland spürt im Moment den Widerspruch zwischen einer Außenpolitik, die in geopolitischen Einflusssphären denkt, und der Realität einer Wirtschaft, die global vernetzt ist. Die Erfahrungen Moskaus mit der globalisierten Wirtschaft und die aktuelle Wirtschaftskrise zeigen doch, dass man mit Geopolitik allein sicher keine Stabilität und Sicherheit schafft.
In Deutschland herrscht nicht nur im linken Spektrum viel Sympathie für Russland, sondern auch am rechten Rand, bei der Pegida-Bewegung und Teilen der AfD. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Autoritäre Politikmodelle und Gemeinwesen, in denen sich politische Entscheidungen an einer Person ausrichten, sind im rechten Spektrum offenkundig attraktiv. Die Unübersichtlichkeit liberaler Gesellschaften überfordert offenbar viele.
Wie kommt es, dass die Frage, wie wir mit Russland umgehen, so polarisiert?
Gerd Koenen hat in seinem Buch „Der Russland-Komplex“ wunderbar beschrieben, wie das Verhältnis von Deutschen und Russen über die Jahrhunderte in guten wie in schlechten Zeiten immer hoch emotional war.
Sie waren im vergangenen Jahr vor allem in Sachen Krisendiplomatie unterwegs. Als Außenminister müssen Sie auch über den Tag hinausdenken. Wie kann sich das deutsch-russische Verhältnis langfristig wieder verbessern?
Es ist wichtig, die politische Infrastruktur bereitzuhalten, damit sich etwas Positives entwickeln kann, wenn das möglich wird. Wir müssen die Gesprächsforen, die wir haben, tatsächlich nutzen, auch um eine kontroverse Debatte zu führen. Das Verhältnis zwischen Nato und Russland war eigentlich nie tonloser, als es zurzeit ist. Wir reden nur übereinander, nicht miteinander.
Wie wollen Sie das ändern?
Ich habe beim letzten Nato-Rat in Brüssel vorgeschlagen, zumindest auf der militärischen Expertenebene einen Austausch zu organisieren. Das gab es selbst in den kältesten Zeiten des Kalten Krieges. Welche Manöver finden statt, welche Truppenbewegungen, welche Überflüge? Über solche Dinge müssen wir reden. Dann hoffe ich, dass wir mit der schrittweisen Umsetzung des Minsker Abkommens, mit der Entschärfung des Ukraine-Konflikts, irgendwann auch das deutsch-russische Verhältnis wieder aufbauen.
Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Nato eine Mitgliedschaft der Ukraine ausschlösse?
Dazu habe ich mich öffentlich geäußert.
Sie haben gesagt, Sie sehen die Ukraine nicht auf dem Weg in die Nato.
Und auf dem letzten Nato-Rat ist das gar nicht zur Sprache gekommen, geschweige denn streitig diskutiert worden. Manchmal ist es eben auch bedeutsam, was auf einem Gipfel nicht gesagt wird.
Sie haben selbst gesagt, das Vertrauen sei auf Jahrzehnte beschädigt.
Trotzdem müssen wir irgendwann mit dem Neuanfang beginnen. Ich habe schon vorgeschlagen, dass wir Möglichkeiten zu einem Dialog zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion ausloten. Da könnten wir über wirtschaftliche Synergien genauso sprechen wie darüber, wie wir mit Interessenkonflikten umgehen.
Warum glauben Sie, dass Putin das überhaupt will?
Weil Russland bei einem dauerhaften Konflikt mit dem Westen nichts gewinnen würde. Es gibt trotz aller Probleme ja auch ein paar positive Zeichen.
Welche denn?
Bislang hat sich die Ukraine-Krise nicht negativ auf das Verhalten Moskaus in anderen Konflikten ausgewirkt. Im Gegenteil, bei den Iran-Verhandlungen in Wien haben die Russen mit dem Angebot, die iranischen Brennstäbe zu übernehmen, eine sehr positive Rolle gespielt. Und ich werde nicht müde zu betonen, dass wir Russland brauchen, wenn wir ernsthafte Schritte zur Lösung der Konflikte im Mittleren Osten und zur Reduzierung der Gewalt in Syrien unternehmen wollen.
Herr Steinmeier, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Spiegel.