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„Kämpfende Bodentruppen gibt es in Syrien wahrlich genug“

19.12.2015 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview zur deutschen Beteiligung an der Bekämpfung der Terrorgruppe IS. Weitere Themen: EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Flüchtlingskrise, deutsch-polnisches Verhältnis. Erschienen im Spiegel 52/2015 (19.12.2015).

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview zur deutschen Beteiligung an der Bekämpfung der Terrorgruppe IS. Weitere Themen: EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, Flüchtlingskrise, deutsch-polnisches Verhältnis. Erschienen im Spiegel 52/2015 (19.12.2015).

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[Der SPD-Vorsitzende] Gabriel will den Einsatz von Bodentruppen in Syrien von einem SPD-Mitgliederentscheid abhängig machen. War diese Idee mit Ihnen abgestimmt?

In Syrien gibt es keine militärische Lösung. Aber auch wer für eine politische Lösung eintritt, muss die Frage beantworten, ob von Syrien etwas überbleibt, das mit einer politischen Lösung befriedet werden kann. Deshalb ist jetzt das Wichtigste, dass wir den Wiener Prozess fortsetzen und alle Kräfte auf eine politische Lösung in Syrien konzentrieren. Und um das nochmal zu sagen: Ich bin mir mit Sigmar Gabriel völlig einig, dass auf syrischem Territorium keine deutschen Bodentruppen gegen IS kämpfen werden.

Die Frage war, ob der Vorstoß, die Partei zu befragen, mit Ihnen abgestimmt war.

Natürlich haben wir darüber gesprochen. Und ich weiß wie er, dass die Mitglieder der SPD die Frage eines Einsatzes von Bodentruppen als eine entscheidende Veränderung sehen und deshalb ihre Meinung nicht ignoriert sehen wollen. Aber nochmals: Weder ist ein solcher Einsatz realistisch noch sind wir darum gebeten worden. Es bleibt dabei: Wir werden alles tun, um zu einer politischen Lösung für Syrien zu kommen.

Als die Franzosen Anfang September Luftschlägen gegen den IS vorbereiteten, haben Sie davor gewarnt, dass Partner „auf die militärische Karte“ setzen. Nach den Anschlägen von Paris entsendet jetzt auch die Bundeswehr Flugzeuge und Soldaten in den Kampf gegen den IS. Wie erklären Sie diesen Positionswechsel?

Die Geschichte ist schon etwas anders. Wir haben uns schon seit dem Sommer 2014 auch militärisch am Kampf gegen den IS beteiligt. Damals haben wir uns – nicht ohne Streit und nicht ohne Risiko – entschieden, die Peschmerga im Nordirak mit Ausbildung und Ausrüstung zu unterstützen. Dieses Engagement ist wichtig, ja und es ist erfolgreich: Die Peschmerga haben im letzten Jahr – auch dank unserer Hilfe – den Vormarsch des IS aufhalten können und haben jetzt auch Gelände zurückgewonnen und das vom IS besetzte Sindschar befreit. Ich war gerade in Bagdad und Arbil und konnte mir selbst ein Bild davon machen: Ein Viertel des Territoriums, das der IS noch vor einem Jahr besetzt hielt, ist inzwischen zurückerobert. Und im Falle Syriens ging es mir vor allem darum, dass nicht jeder seinen eigenen Krieg gegen den IS führt, sondern wir mit koordinierten Aktionen das Wüten und Morden der Terrorbanden stoppen.

Alle Experten sagen, dass der Krieg aus der Luft nicht zu gewinnen ist, dass man den IS nur mit Bodentruppen besiegen kann. Wer soll am Boden gegen den IS kämpfen?

Kämpfende Bodentruppen gibt es in Syrien wahrlich genug. Ein erster Schritt wäre, wenn wir all diese verschiedenen Gruppen dazu bringen könnten, sich nicht im Stellungskrieg gegeneinander zu verschleißen, sondern ihre Kraft auf den Gegner zu konzentrieren, der Regime wie Opposition bedroht: der IS und seinesgleichen. Auch deshalb bemühen wir uns im Wiener Prozess, derzeit in New York, um einen Waffenstillstand zwischen den Sicherheitskräften des Regimes und den bewaffneten Teilen der Opposition.

Die Saudis haben jetzt eine Anti-Terror-Koalition angekündigt, die nur aus sunnitischen Kräften bestehen soll. Ist das hilfreich?

Saudi-Arabien kommt mit der Allianz der Aufforderung der internationalen Staatengemeinschaft nach mehr Engagement gegen den Terror nach. Allen muss doch klar sein: Ohne den Einsatz der islamischen Welt wird sich der islamistische Terrorismus nicht besiegen lassen. Es bleibt abzuwarten, über welche Struktur und Fähigkeiten das neue Bündnis verfügt. Je breiter das Spektrum islamischer Strömungen ist, das der Allianz angehört, desto größer ist die Chance, auch die Rekrutierungsmaschinerie von ISIS und anderer Terrororganisationen zu zerstören.

Am erfolgreichsten kämpfen bisher die Kurden gegen den IS. Was, wenn sie am Ende auf einem unabhängigen Kurdenstaat bestehen?

Die ganze Region braucht vieles, aber sicher nicht neue Grenzen. Der kurdische Präsident Masoud Barzani hat mir vor wenigen Tagen versichert, dass die Kurden ihr Streben nach Unabhängigkeit nicht aufgegeben haben, aber nur gewaltfrei und im Wege des Dialogs verfolgen würden.

Für eine Lösung in Syrien arbeiten die Deutschen mit Iran und Saudi-Arabien, Russland und der Türkei zusammen. Müssen wir, um den Flüchtlingsstrom zu begrenzen, Werte wie Menschenrechte und Demokratie zurückstellen?

Wir müssen unsere Prinzipien nicht in Frage stellen, geschweige denn aufgeben. Aber wir dürfen nicht allen ausweichen, die unsere Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten nicht teilen. Wenn wir jedes Mal, wenn es kompliziert wird, anderen das Gespräch verweigerten, wäre Iran heute eine Atommacht und wir hätten einen offenen Krieg in der Ukraine.

Über Menschenrechte reden ist das eine, einen Autokraten wie den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit Milliarden aufzuwerten, etwas anderes.

Gerade weil die Menschenrechte nicht in den Hintergrund rücken dürfen, bin ich dafür, die einschlägigen Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu eröffnen. Damit bekämen wir ja gerade die Auseinandersetzung über diese schwierigen Fragen, die viele zu Recht fordern.

War es ein Fehler, die Beitrittsverhandlungen nicht ernsthaft betrieben zu haben?

Europa war sich leider in der Türkeifrage nicht einig. Einige Mitgliedstaaten lehnen – im Widerspruch zu geltenden Beschlüssen – eine Mitgliedschaft prinzipiell ab.

Auch CDU und CSU sind gegen einen EU-Beitritt der Türkei.

Das ist mir nicht entgangen.

Gehört denn für Sie die Türkei in die EU?

Ich bin nicht sicher, ob die Türkei selbst derzeit diese Frage so klar für sich beantworten kann. Das müssen wir aber auch heute nicht entscheiden. Wir werden in den Verhandlungen sehen, ob Ankara die Kriterien erfüllen kann und will. Beitrittsverhandlungen werden ergebnisoffen, aber mit dem Ziel der Mitgliedschaft geführt, das gilt für alle Staaten.

2015 war ja nicht nur ein Jahr außenpolitischer Krisen, auch die EU geriet durch die Flüchtlingsfrage in ihre vielleicht schwerste Krise. Ihr Parteifreund, der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, warnt in dramatischen Wortern vor einem Zerfall der EU. Teilen Sie diese Sorge?

Die Flüchtlingskrise hat gnadenlos die Bruchstellen Europas offengelegt. Und das in einem Moment, in dem die Folgen der Finanzkrise noch längst nicht überwunden sind. Zugleich wachsen nationalistische, populistische und euroskeptische Parteien. Es fällt deshalb nicht leicht, auf den alten europäischen Grundsatz zu vertrauen, wonach Europa aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen ist. Dennoch: In Angststarre verfallen, ist keine Antwort. Vielmehr gilt es, mit konkreter Politik den Mehrwert Europa herauszustellen.

Hätten Sie gedacht, dass sich die jahrzehntelang beschworene europäische Solidarität innerhalb weniger Wochen als so brüchig erweist?

Das Ausmaß der Menschenströme, die nach Europa ziehen, ist historisch. Deshalb habe ich nie die Illusion gehabt, dass wir das in Nullkommanix durch magisches Handauflegen in den Griff kriegen können. Es hilft nichts: Wir brauchen eine europäische Lösung, die von allen 28 Mitgliedstaaten getragen wird. Manche unserer Nachbarn machen es sich zu einfach, wenn sie mit dem Finger auf Deutschland zeigen und uns vorwerfen, dass eineinhalb Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak doch nur wegen „deutscher Willkommenskultur“ nach Europa strömen. Im Gegenteil: Die allermeisten haben Heimat und Familie nicht freiwillig, sondern auf der Flucht vor Gewalt und Barbarei, vor Krieg und Tod verlassen müssen. Es ist unsere moralische Pflicht und unsere europäische Verantwortung, diesen Menschen in höchster Not Zuflucht zu gewähren. Das muss der Anspruch sein, wir werden an unseren europäischen Werten gemessen.

Wie sollte Deutschland denn die neue rechtspopulistische Regierung in Polen reagieren?

Wir sind gut beraten, wenn wir gerade jetzt mit unseren polnischen Partnern sprechen und nicht über sie.

Als Sie Ihren neuen polnischen Amtskollegen Witold Waszczykowski neulich in Berlin empfingen, lobten Sie die deutsch-polnischen Beziehungen als „so gut wie noch nie“. Lässt sich eine rechtspopulistische Regierung durch solche Vorschusslorbeeren milde stimmen?

Hätten Sie vollständig zitiert, dann wüssten Ihre Leser, dass der darauf folgende Satz lautete: Die guten deutsch-polnischen Beziehungen sind ein Schatz, den wir gut hüten müssen. Das sind keine Vorschusslorbeeren, sondern der Wunsch, das Vertrauensverhältnis, das wir in den 25 Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aufgebaut haben, nicht aufs Spiel zu setzen. Gerade deshalb ist es mir so wichtig, dass ich mit meinem Amtskollegen eine Gesprächsatmosphäre halten kann, die es uns erlaubt, einander mitzuteilen, was den jeweils anderen beunruhigt oder missfällt.

Die neue polnische Regierung weigert sich, ihre Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen zu erfüllen. Was sollte die EU tun, um geltendes Recht durchzusetzen?

Manche unserer Nachbarn, nicht nur in Polen, haben argumentiert, dass wir in der Flüchtlingskrise zunächst für einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen sorgen müssen. Dazu hat die EU-Kommission in dieser Woche gute und ehrgeizige Vorschläge vorgelegt. Dann ist es jetzt aber auch die Verantwortung aller unserer Partner, auch derer, die in der Frage der Lastenverteilung zurückhaltend waren, hier schnell Nägel mit Köpfen zu machen.

Was sollte man tun, wenn eine Regierung die Beschlüsse nicht einhält?

Europa ist eine Rechtsgemeinschaft. Das einmal gegebene Wort zählt etwas. Und wenn es nicht anders geht, werden die Dinge eben auf den dafür vorgesehenen Wegen juristisch geklärt. Das ist nicht schön, aber dann muss es eben sein. Die Slowakei will es ja so. Diejenigen, die sich verweigern, müssen aber wissen, was auch für sie auf dem Spiel steht: Die offenen Grenzen in Europa. Europäische Solidarität ist nun mal keine Einbahnstraße.

Herr Steinmeier, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Interview: Christiane Hoffmann und Christoph Schult. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Spiegel. http://www.spiegel.de/spiegel/

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