Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
„Geduld und Zurückhaltung sind nicht belohnt worden“
Außenminister Sigmar Gabriel spricht im Interview über die Entwicklungen in der Türkei, die Flüchtlingssituation und die transatlantischen Beziehungen. Erschienen am 03.08.2017 im Stern.
Herr Gabriel, Sie haben noch während Ihres Urlaubs die Reisehinweise für die Türkei verschärft. Hat das die türkische Regierung beeindruckt?
Das sicher. Die türkische Regierung hat offensichtlich gemerkt, dass wir es sehr ernst meinen. Sie bewegen sich durch mehrere Telefonate wieder auf uns zu. Trotzdem ist das alles zurzeit nicht ausreichend. Das Kernproblem bleibt, dass sich die Türkei von der Demokratie entfernt. Und dass dort Unschuldige in Haft sitzen. Darunter neun deutsche Staatsbürger. Solange das nicht geklärt ist .....
...stehen ja auch über 40 Jahre Haft für jeden der Gefangenen im Raum.
Die Politik in der Türkei sieht so aus: Schon der politische Widerstand gegen die Regierung gilt als Terrorismus. Wir sagen, mit so einem Terrorismusbegriff können wir nicht operieren. Zeigt uns Beweise gegen Leute, die am Putsch gegen euch beteiligt waren, dann werden wir dem nachgehen. Wenn in der Türkei ein faires Verfahren auf sie wartet, ohne Folter und Todesstrafe, liefern wir sogar Hintermänner des Putschversuchs aus, denn natürlich verurteilen wir diesen Versuch im letzten Jahr. Aber die türkische Regierung muss uns Beweise für Personen liefern, die sich in Deutschland aufhalten. Genau das hat sie aber bis heute nicht getan. Und was wir auf keinen Fall akzeptieren, ist die Strategie der Regierung, diesen Putschversuch als Vorwand zu missbrauchen, um jede andere Meinung in der Türkei zu unterdrücken. Das hat mit einem Rechtsstaat nichts zu tun. Auf dieser Grundlage kommen wir nicht zueinander.
Gibt es für Sie eine rote Linie?
Ich bin kein Anhänger solcher Begriffe, weil sich die Dinge enorm schnell verändern. Wer hätte gedacht, dass in der Türkei mal unschuldige deutsche Staatsangehörige inhaftiert würden? Oder dass Tausende Mitarbeiter der Justiz, der Verwaltung, der öffentlichen Ordnung einfach so ent-lassen werden? Für uns ist klar, die Türkei, die sich weiter in diese Richtung bewegt, wird nie in der EU ankommen. Die wiederholte Ankündigung, die Todesstrafe wieder einzuführen, ist das Ende der bisherigen Beziehungen zwischen Europa und der Türkei. Das ist völlig eindeutig.
Die Warnungen der EU sind doch seit langer Zeit eindeutig, aber die türkische Reaktion blieb bisher aus.
Ja, Sie haben leider recht. Allerdings sehen wir jetzt gerade, dass die türkische Regierung auf wirtschaftlichen Druck reagiert. Der Tourismus ist einer der kritischsten Punkte der Türkei. Aber wenn man ehrlich ist, liegt der ja schon ziemlich am Boden. Dass türkische Behörden jetzt über 600 deutsche Unternehmen von Daimler über BASF bis zur Dönerbude dem Terrorismusverdacht ausgesetzt haben, ist nicht akzeptabel. Als wir deshalb vor Investitionen in die Türkei gewarnt haben, hat die türkische Regierung diesen Irrsinn sofort gestoppt und zu einem „Missverständnis“ erklärt. Das ist gut. Es ändert nur leider nichts an der grundsätzlichen Entwicklung.
Kann Diplomatie heute noch ohne wirtschaftlichen Druck erfolgreich sein?
Oft braucht es diesen Druck. Und das freut mich nicht. Mir blutet das Herz dabei. Übrigens schon bei diesen Reisehinweisen. Wer leidet darunter? Die kleinen Hotelbetreiber, der Strandbudenbesitzer, all die im Westen der Türkei, die vom Tourismus leben. Das sind die deutschfreundlichsten Türken, die es gibt.
Also treffen die Reisehinweise eigentlich die Falschen?
Ja. Und trotzdem sagen wir: Die Maßnahmen richten sich nicht gegen die Türken.
Auch nicht gegen die rund drei Millionen Menschen, die türkische Wurzeln haben in Deutschland. Egal, ob sie einen deutschen Pass haben oder einen türkischen. Sie sind Bürger unseres Landes. Wir haben ihnen viel zu verdanken. Sie haben den wirtschaftlichen Aufbau vorangebracht, sie sind in der Kultur, im öffentlichen Leben eine Bereicherung unseres Lands. Wir wollen nicht, dass sie sich von Deutschland entfremden. Aber wir werben auch um Verständnis dafür, dass unser Land nicht tatenlos zusehen kann, wenn in der Türkei Unrecht geschieht.
Waren Sie vorher zu weich?
Verständnis zu zeigen, geduldig zu sein, nicht auf die Provokationen zu reagieren, das hat uns jedenfalls nicht weit gebracht. Immerhin hat Erdogan uns mit Nazideutschland verglichen. Wir haben das nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt. Alle Freundlichkeit und Geduld und Zurückhaltung sind nicht belohnt worden. Das ist bitter. Es ist nicht schön, dass wir erleben: Erst Druck verändert die Lage.
Riskiert die türkische Regierung einen langfristigen Schaden, der nicht mehr zu kitten ist?
Ja, und das ist wirklich eine große Gefahr. Türken und Deutsche verbindet eine ganz reichhaltige Geschichte. Das ist ein großer Schatz. Die aktuellen Auseinandersetzungen dürfen diesen Schatz nicht zerstören. Es gibt eine Türkei, die ist viel bedeutender als die jetzige Regierung der Türkei. Wir können aber nicht dasitzen und nichts tun. Und dieser verschärfte Reisehinweis hat damit zu tun, dass wir nicht sicher sein können, dass unbescholtene deutsche Bürger nicht in Haft genommen werden.
Ist denn diese Gefahr real?
Stellen Sie sich vor, Sie reisen seit Jahren in die Türkei und besuchen Freunde. Einer dieser Freunde wird verdächtigt, Anhänger der Gülen-Bewegung zu sein. Auf einmal stehen Sie selbst unter Terrorismusverdacht.
Haben Sie Hinweise darauf, dass deutsche Staatsbürger im Gefängnis misshandelt werden?
Nein. Aber die Haft an sich ist schon schlimm genug. Es gibt eine deutsche Übersetzerin und Journalistin, die sitzt zusammen mit ihrem zwei Jahre alten Sohn im Gefängnis. Mit einem zwei Jahre alten Kind! Die Frau hat zumindest auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Wir haben vorgeschlagen, dass sie bis zu einem Verfahren in der Türkei freigelassen wird. Das wurde bisher verweigert.
Ihnen läuft langsam die Zeit im Amt davon. Welche Krisen beschäftigen Sie neben der Türkei noch bis zum Ende der Legislaturperiode? Was wollen Sie erledigt wissen?
Leider wird sich wenig „erledigen“ in den kommenden Jahren. Wir leben in einer Zeit, in der wir schon viel erreicht haben, wenn die Welt nicht noch gefährlicher wird. Wir waren in den letzten Monaten oft in Afrika aktiv, um bei den Hungerkatastrophen zu helfen. Wir haben sehr viel Geld mobilisiert. Denn Militär allein hilft nicht. Nur wenn die Menschen Chancen auf eine bessere Zukunft haben, werden sie sich nicht mehr auf den gefährlichen Weg nach Europa machen. Ich werde noch mal in den Südsudan und nach Uganda reisen. Wolfgang Niedecken von der Kölsch-Rockband BAP wird mich begleiten. Er hat dort ein Projekt zur Integration ehemaliger Kindersoldaten.
Das Thema wird mich bis zu meinem letzten Tag im Amt beschäftigen, wie lange das auch noch ist. Dies wird ein afrikanisches Jahrhundert. Afrika verdoppelt seine Bevölkerung auf drei Milliarden Menschen in wenigen Jahrzehnten. Entweder es gelingt uns, gemeinsam aus Europa heraus in Afrika Krieg und Bürgerkrieg einzudämmen, Hunger, Not und Elend zu bekämpfen, oder die Flüchtlinge werden in noch größerer Zahl kommen.
Martin Schulz wird gerade der Vorwurf gemacht, er würde das Thema im Wahlkampf nutzen.
Ich finde diesen Vorwurf absurd. In Italien kann man sehen, dass Europa ein ungelöstes Flüchtlingsproblem hat. Für Italien ist das jetzt schon eine Katastrophe. Wir laufen sehenden Auges in die gleiche Situation wie 2015 auf dem Balkan hinein. Dass der SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Martin Schulz davor warnt und auch die CDU-Kanzlerin Angela Merkel auffordert, nicht tatenlos zuzusehen, ist mehr als berechtigt.
Das ist eine der entscheidenden Fragen der kommenden Monate und vermutlich Jahre. Wer sich wie CDU und CSU weigert, darüber vor der Bundestagswahl zu reden, hat letztlich vor, die Wählerinnen und Wähler im Unklaren zu lassen.
Erwarten Sie die zweite große Flüchtlingswelle?
Die Wahrheit kommt nach der Bundestagswahl ans Licht. Es ist doch unübersehbar: Jetzt kommen die Flüchtlinge über Libyen nach Italien und werden zurzeit dort gestoppt. Italien läuft aber über. Es gibt wieder keine europäische Solidarität in der Frage. Europäische Regierungschefs müssen jetzt Lösungen verhandeln, die verhindern, dass auf einmal explosionsartig die Schleusentore geöffnet werden. Deutschland und Österreich werden wie 2015 die Hauptleidtragenden sein.
Finden Sie also richtig, dass Martin Schulz den Finger in diese Wunde gelegt hat?
Martin Schulz macht das richtig. Er sagt nämlich vor allem die Wahrheit. Und er fordert zu Recht Angela Merkel auf, im Europäischen Rat die Länder, die sich nicht solidarisch an der Flüchtlingsverteilung beteiligen, dann auch finanziell nicht zu fördern. Denn Europa ist keine Zugewinngemeinschaft, in der man nur dann mitmacht, wenn man Geld bekommt. Die Konsequenz kann nur sein, dass diejenigen auch nicht auf die Solidarität derer zählen können, die Flüchtlinge aufnehmen. Man muss die belohnen, die sich um Flüchtlinge kümmern, und denen Geld streichen, die sich der europäischen Solidarität entziehen.
Muss man nicht die Flüchtlingsbewegung schon in Libyen angehen und nicht erst in Europa?
Ja, das gehört auch zur Wahrheit: Was machen wir eigentlich in Libyen? Viele sagen, lass uns doch Flüchtlingscamps bauen. Tolle Idee. Dazu braucht man aber einen funktionierenden Staat. Derzeit sind die Flüchtlingscamps unter Kontrolle von ganz finsteren Milizen. Ein deutscher Diplomat schrieb uns, dass dort KZ-ähnliche Zustände herrschen. Ich habe mir ein Camp angesehen, das unter Kontrolle der libyschen Regierung ist. Das ist schlimm genug.
Bevor ich gekommen bin, haben sie 400 Leute freigelassen, damit es nicht ganz so eng ist. In Wahrheit brauchen wir da erst mal einen Staat. Und die europäischen Mitgliedsstaaten, die Golfstaaten, Ägypten und manche andere müssen aufhören, in Libyen immer ihre eigenen nationalen Interessen zu verfolgen. Das führt nur dazu, dass sich hinter jedem Staat immer eine andere Miliz versteckt und keine nationale Regierung eine Chance hat.
Können Sie sich in Libyen eine diplomatische Lösung unter deutscher Führung vorstellen?
Es muss immer eine europäische sein. Das Dilemma der europäischen Außenpolitik ist doch, dass immer alle sagen, man brauche eine gemeinsame Außenpolitik. In Wahrheit wollen aber die Nationalstaaten beweisen, dass sie selbst die beste Außenpolitik machen. Das hat mit der Geschichte Europas zu tun. Europa ist nicht als weltpolitischer Akteur, sondern es ist mit dem Blick nach innen gegründet worden. Jetzt müssen wir eine Rolle nach außen annehmen. Wir müssen lernen – jetzt sage ich es in der Sprache der Diplomaten –, mit robusten Mitteln einzugreifen. Gemeint ist Militär, um zum Beispiel Friedensprozesse voranzutreiben. Das haben wir bisher immer den USA überlassen. Manchmal auch den Briten und Franzosen. Aber als gemeinsames Europa haben wir es nicht gelernt.
Jetzt sprechen Sie ganz im Sinne der Amerikaner.
Deren Haltung dazu ist richtig. Das ist unsere Nachbarregion, nicht deren. Unsere Stärke ist, gegen Hunger und Armut zu kämpfen. Was wir nicht können, ist, militärischen Schutz herzustellen, damit Frieden überhaupt eine Chance hat. Wir Europäer – mit Ausnahme der Franzosen und der Briten – wollen diese unangenehmen Dinge von uns fernhalten. Wir wollen UN-Dörfer aufbauen, aber den Schutz sollen andere gewährleisten. Es kommen sehr unangenehme Fragen auf uns zu.
[...]
Können Sie in dieser Legislaturperiode noch eine größere Annäherung an die USA erreichen?
Jedenfalls haben wir jedes Interesse, es zu versuchen. Ich will hier mal etwas Ungewöhnliches tun und etwas Gutes über die neue US-Administration sagen: Außenminister Rex Tillerson hat in den vergangenen Monaten gezeigt, wie gut europäische und amerikanische Politik Hand in Hand gehen können. Während der Krise in Katar hat Tillerson die gleiche Linie vertreten wie wir. Nämlich die, Katar nicht zu isolieren. Wir haben gemeinsam nach Lösungen gesucht, die Golfstaaten zusammenzuhalten. Der drohende Krieg ist dadurch abgewendet worden. Tillerson ist auch derjenige, der dafür streitet, keinen Handelskrieg zwischen Europa und den USA auszulösen. Aber kann man sich langfristig vorstellen, mit Donald Trump zusammenzuarbeiten? Bei allem Kopfschütteln über Trumps Präsidentschaft und die Unsicherheit, die das mit sich bringt, ohne die USA wäre der Westen viel schwächer. Politisch und kulturell steht uns kein Land der Welt näher als Nordamerika. Deswegen glaube ich, dass wir in den Diskussionen mit den USA nicht in Sack und Asche gehen müssen. Wir dürfen auch nicht unterwürfig sein. Wir müssen versuchen, die transatlantischen Beziehungen am Leben zu erhalten und mit den Amerikanern nach gemeinsamen Wegen suchen.
Ist Russland noch ein verlässlicher Partner?
Mein Eindruck ist, dass Russland zwei Dinge registriert hat. Wladimir Putin hatte die Hoffnung, mit China einen Partner auf Augenhöhe zu finden. Das hat sich nicht bewahrheitet. Die Chinesen sagen sehr selbstbewusst: Es gibt eigentlich nur noch zwei Supermächte, das sind wir und die Amerikaner. Die zweite Hoffnung der Russen, dass sie mit der neuen US-Regierung besser zurechtkämen als mit der Regierung Obama, die sie für zu unberechenbar und für zu weich gehalten haben, hat sich ebenfalls nicht bewahrheitet. Deshalb gibt es wieder eine vorsichtige Zuwendung der Russen zu Europa.
Spüren Sie schon Trennungsschmerz von Ihrem Amt als Außenminister?
Glauben Sie mir, dieses Amt gibt niemand gerne auf. Trotzdem denke ich wirklich nicht an die Zeit nach der Bundestagswahl. Mein Rat an jeden Politiker ist: Wenn du ein Amt bekommst, streng dich bis zum letzten Tag deiner Amtszeit an. Und denke nicht an die Zeit danach. Mach es, so gut du kannst, in der Zeit, die dir gegeben wird.
[...]
Interview: Christian Krug