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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock „Deutschlands Verantwortung für Europa“ anlässlich der Konferenz der Leiterinnen und der Leiter der deutschen Botschaften in den EU-Mitgliedstaaten sowie der Ständigen Vertretung bei der EU: „Unsicherheit in Europa – Welche Schlussfolgerungen ziehen wir aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine für unsere Europapolitik?“
Letzte Woche war ich in der Ukraine.
In Butscha, in einer Kirche voller Fotos erschossener Zivilisten.
In Irpin, zwischen zerbombten Häusern und Wohnblocks.
Und ich habe gesprochen mit Präsident Selensky, mit Außenminister Kuleba, mit Frauen aus der Zivilgesellschaft. Sie alle hatten die gleiche Botschaft:
„Wir verteidigen in der Ukraine europäische Werte. Wir kämpfen hier auch für Euer Europa.“
Das zu erleben geht unter die Haut. Man spürt, wie entscheidend der aktuelle Moment für die Zukunft unseres Kontinents ist.
Und ich weiß: Nicht nur ich habe in den vergangenen Wochen diese Erfahrung gemacht.
Sondern auch viele Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Amt – und gerade Sie an unseren Auslandsvertretungen in der Europäischen Union, besonders in Mittel- und Osteuropa.
Die Zeit seit dem 24. Februar ist für uns alle nicht einfach.
Für manche hier im Raum ist sie vielleicht eine Ihrer größten Herausforderungen im Auswärtigen Dienst.
Deshalb will ich Ihnen allen gleich zu Beginn herzlich „Danke“ sagen:
Für Ihre fundamental wichtigen Analysen zur Haltung Ihrer Gastländer in der Krise.
Für Ihr großes Engagement, als Sie zu den Grenzen unserer osteuropäischen Nachbarländer gereist sind, wo Tausende Geflüchtete aus der Ukraine ankamen.
Und dafür, dass Sie in einer schwierigen Lage im Ausland deutsche Politik vertreten.
Ich weiß: Das war in den letzten Wochen oft schwierig. Denn nicht alle Entscheidungen sind hier in Berlin immer so schnell und klar gefallen, wie wir uns das gewünscht hätten – das will ich an dieser Stelle einmal offen sagen.
Aber in einer Zeitenwende gibt es eben keine schnellen, einfachen Antworten, mit der wir alle Probleme auf einen Schlag lösen.
Denn wir alle stehen vor einer neuen Situation:
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat die europäische Friedensordnung, die wir – die viele von Ihnen – seit Ende des Kalten Kriegs in Europa mit aufgebaut haben, zerstört.
Der Krieg hat viele unserer Annahmen über internationale Politik als Illusionen entlarvt – etwa, dass wirtschaftliche Vernetzung auch automatisch Demokratisierung und Wertekonvergenz mit sich bringt.
Was bedeutet dieser Bruch für die deutsche Außen- und Europapolitik – und wie sieht das Europa aus, das aus dem 24. Februar erwächst?
Vieles ist im Fluss, und mit Prognosen sollte man vorsichtig sein.
Aber ich will doch einige Punkte ansprechen, die mir wichtig sind:
Vor uns tut sich ein europäisches Sicherheitsumfeld auf, das für uns gefährlicher, rauer und teurer sein wird.
Das gilt ganz unmittelbar für den Krieg in der Ukraine, der noch Monate dauern und grausamer werden kann – und in dem wir der Ukraine weiter beistehen müssen.
Es gilt aber auch über diesen Krieg hinaus. Denn eine Rückkehr zum status quo ante wird es nicht geben. Ein Russland unter Vladimir Putin wird der NATO und der EU auf Dauer als gefährlicher Gegner gegenüberstehen – militärisch, diplomatisch, wirtschaftlich, mit Cyberattacken und Desinformation.
Das alles haben wir uns nicht gewünscht – aber es ist die neue Welt, auf die wir uns einstellen müssen.
In dieser Lage können wir uns nicht wegducken. Und wir sollten das auch nicht. Denn aus meiner Sicht haben die vergangenen Monate gezeigt:
Wir haben die Stärke, in dieser rauen neuen Welt zu bestehen.
Deutschland hat seit dem 24. Februar einen ambitionierten Weg eingeschlagen.
Mit der Stärkung unserer Wehrhaftigkeit in Europa und im transatlantischen Bündnis, besonders über das Sondervermögen der Bundeswehr. Mit unserer massiven Unterstützung für die Ukraine. Und mit entschlossenen Schritten, die uns unabhängig machen von fossiler Energie aus Russland.
Und wir bestehen in dieser Welt, weil wir eng zusammenstehen mit unseren Partnerinnen und Partnern in den G7, der NATO und besonders in der EU – so wie bei dem Konferenzmarathon in Weissenhaus, Berlin und Brüssel in den vergangenen Tagen.
Ja, natürlich reiben wir uns in der EU heftig, wenn wir Reaktionen auf Russlands Krieg abstimmen.
Aber ich sage deutlich: Die Geschwindigkeit, mit der sich 27 so unterschiedliche Länder in den vergangenen Wochen bewegt haben, war schlichtweg bemerkenswert:
Das zeigen die EU-Sanktionen – auch wenn momentan intensiv um das sechste Paket gerungen wird. Das zeigt die Europäische Friedensfazilität, mit der wir Waffen an die Ukraine liefern. Und das sehen wir mit den Millionen Geflüchteten aus der Ukraine, die überall in der EU aufgenommen wurden.
Und bemerkenswert ist aus meiner Sicht auch, wie effektiv NATO und EU seit dem 24. Februar zusammenarbeiten.
Europäische Souveränität und eine starke transatlantische Partnerschaft – beide sind jetzt weithin sichtbar zwei Seiten einer Medaille.
Der NATO-Beitritt der EU-Mitglieder Schweden und Finnland wird diese Konvergenz noch erhöhen – und deshalb werden wir ihn, wenn es um die deutsche Zustimmung geht, im Schnellverfahren beschließen.
Kurz- und mittelfristig verfolgen wir als EU, NATO und G7 ein zentrales Ziel:
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine muss für Putins Regime zu einem strategischen Fehlschlag – einer strategic failure – werden.
Moskau darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine muss als unabhängiger und freier Staat bestehen bleiben.
Darüber hinaus machen wir Russland deutlich: Seine Aggression hat hohe Kosten: Eine verstärkte NATO-Präsenz in seiner Nachbarschaft, Sanktionen, internationale Isolierung.
Um bei all diesen Schritten gegen Russland erfolgreich zu sein, brauchen wir eine starke, strategisch souveräne EU – wie auch im neuen Strategischen Kompass angelegt.
Für diese EU sehe ich dabei zwei Prioritäten: Handlungsfähigkeit und Geschlossenheit.
Eine handlungsfähige EU verstärkt ihre Unterstützung für die Ukraine – darin war ich mir am Montag im Außenrat mit meinen Kolleginnen und Kollegen einig.
Deshalb helfen wir der Ukraine beim Getreideexport, beim Wiederaufbau von befreiten Gebieten und bei der Verfolgung russischer Kriegsverbrechen.
Wir finanzieren mehr Waffenlieferungen über die Europäische Friedensfazilität.
Und wir legen bei den Sanktionen gegen Russland nach. Dabei ist es wichtig, dass Deutschland die Sanktionsdebatte weiter aktiv gestaltet – so wie zuletzt beim Ölembargo.
Proaktiv müssen wir auch die emotional so wichtige Frage des EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine angehen:
Deutschland muss sich aus meiner Sicht ganz klar zur europäischen Perspektive der Ukraine bekennen.
Aber gleichzeitig sollten wir mit Gleichgesinnten darauf bestehen, dass vorschnelle Abkürzungen in die EU am Ende der Union, nämlich ihrer Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit, schaden.
Deshalb muss der Beitrittsprozess an Bedingungen gebunden bleiben. Und die EU selbst muss sich reformieren, um überhaupt neue Mitglieder aufnehmen zu können.
Russlands Krieg in der Ukraine wird die europäische Außen- und Sicherheitspolitik auf absehbare Zeit prägen – aber gerade deshalb muss die Union auch ihre Nachbarschaft stärken:
Auf dem Westbalkan, den Russland immer mehr zu destabilisieren versucht. Deshalb habe ich diese Woche im Außenrat nochmal darauf gedrungen, dass wir vorankommen bei den Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien und dem Dialog zwischen Serbien und Kosovo.
Und gegenüber Großbritannien werden wir nicht zulassen, dass London mit einer Abkehr vom Nordirlandprotokoll die Integrität des EU-Binnenmarkts untergräbt.
Europäische Handlungsfähigkeit heißt außerdem: Eine europäische Klima- und Energiepolitik, die uns mit „Fit for 55“ und grüner Transition zum ersten klimaneutralen Kontinent macht.
Denn nach Russlands Aggression ist klar: Klimapolitik und Energiewende sind Sicherheitspolitik.
Nie wieder dürfen wir derart abhängig von autokratischen Staaten werden wie von Russland. Deshalb muss die EU neben der Energiewende auch weiter in ihre wirtschaftliche Resilienz investieren.
Mit Investitionskontrollen oder dem Anti-Coercion Instrument, mit dem wir uns zukünftig gegen geoökonomische Daumenschrauben wehren, wie sie China zuletzt Litauen angelegt hat.
Die Handlungsfähigkeit der EU in all diesen Feldern setzt dabei eines voraus – eine möglichst große Geschlossenheit eben dieser EU.
Sie alle wissen: Das ist und wird eine Herausforderung.
Bei meinen ersten Reisen als Außenministerin ist mir – auch dank Ihrer Briefings und Vorbereitungen – nochmal ins Auge gesprungen, wie groß die politische, kulturelle und historische Vielfalt der Mitgliedsstaaten ist.
Und auch wie schwer Geschichte an vielen Orten wiegt – gerade in Mittel- und Osteuropa, wo die Erinnerung an die sowjetische Vorherrschaft für alte wie junge Menschen noch ganz präsent ist.
Deshalb ist mir wichtig, dass wir die Anliegen all unserer Partnerinnen und Partner sehen, ihr Denken und ihre Sorgen verstehen – um dann geduldig nach gemeinsamen Lösungen suchen – so wie jetzt für das sechste Sanktionspaket.
Aber gleichzeitig müssen wir als Deutschland auch klarmachen:
Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern vor allem eine Werteunion. Wir stehen für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, die alle unsere Mitgliedsstaaten binden, gerade in einer Krise wie jetzt.
Und bei dieser Aufgabe ist die Arbeit von Ihnen allen so wichtig:
Sie sind es, die uns in Berlin jeden Tag aufs Neue Ihre Gastländer erklären – so wie Sie es seit Ausbruch der Russland-Krise getan haben.
Und gleichzeitig kommt es ganz entschieden auf Sie an, in dieser Krise deutsche Sichtweisen und Positionen im Ausland zu erklären.
Sie sind dort unsere Stimmen, unsere Ohren und unsere Gesichter!
Ich ermutige Sie daher: Gehen Sie offensiv in die öffentliche und mediale Auseinandersetzung: Auf Twitter und Facebook, im Fernsehen und mit Zeitungsinterviews.
Aus der Zentrale unterstützen wir Sie dabei: Mit Lines to take oder Analysen zu russischer Desinformation.
Und wenn Sie in Ihrem Gastland medialen Gegenwind oder gar einmal einen „Shit-Storm“ auslösen – dann ist das aus meiner Sicht sogar ein gutes Zeichen, nämlich dafür, dass wir aktiv in eine Debatte einsteigen – und in jedem Fall besser, als gar nicht zu kommunizieren.
Wichtig ist mir für unsere Kommunikation außerdem: Europapolitik passiert nicht nur in Brüsseler Glaspalästen und nationalen Hauptstädten.
Sondern zwischen Menschen. In Schulen, Universitäten, Think Tanks, Vereinen.
Daher sind für mich bei meinen Auslandsreisen Treffen mit der Zivilgesellschaft zentral – einige von Ihnen, die ich bereits besucht habe, wissen das schon.
Denn ich bin überzeugt: In Zeiten wie heute müssen Deutschland und deutsche Diplomatie klarmachen:
Unsere Außenpolitik vertritt klare Werte: Wir wollen, dass die Menschen in Europa in Sicherheit, Freiheit und Demokratie leben können.
Auch – und das war meine Botschaft in Kiew vergangene Woche – in der Ukraine, wo mutige Menschen tatsächlich gerade jeden Tag unsere Werte verteidigen.
Dieser schwierigen Aufgabe müssen wir uns täglich stellen – und es ist gut, dabei auf Sie alle zählen zu können.
Herzlichen Dank – und jetzt freue ich mich auf die Diskussion!