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Einer von uns
Namensbeitrag von Außenminister Heiko Maas in „Zeit online“
Heute vor 20 Jahren wurde Enver Şimşek niedergeschossen. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Elf Jahre lang wussten seine Frau und seine beiden Kinder nicht, warum. So erging es auch den Angehörigen von neun weiteren Mordopfern des sogenannten „NSU“. Dabei gab es kaum eine Richtung, in die in diesen elf Jahren nicht ermittelt worden wäre. Nur rechter Terror gehörte nicht dazu. Stattdessen lösten die NSU-Morde reflexhaft Vorurteile aus. Medien berichteten über die „Döner-Morde“, die „Türken-Mafia“, die „SoKo Bosporus“. Die Opfer und ihre Schicksale gerieten aus dem Fokus. Enver Şimşek starb, weil er nicht als einer von uns galt. Weil er keiner ‚aus unserer Mitte’ war. Obwohl er bereits 14 Jahre in diesem Land lebte, blieb Enver Şimşek für zu viele von uns „der Türke“. Das ist und bleibt unser großes Versäumnis, unsere Schuld.
Zwar wurde den Täterinnen und Tätern der Prozess gemacht. Aber Rechtsextremismus ist noch immer die größte Gefahr für dieses Land: Wir haben rechtsextreme Abgeordnete in unseren Parlamenten. Und Menschen die sich nicht davor gruseln, Seite an Seite mit Rassisten und Antisemiten zu demonstrieren. Zwar hat jeder das Recht, seine Kritik an Corona-Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen. Aber: Jeder hat auch die Pflicht zu prüfen, wem er da so hinterherläuft. Niemand sollte sich von Rechtsradikalen vereinnahmen lassen. Rechter Terror ist nichts, was der Vergangenheit angehört. Der Mord an Walter Lübcke, die rassistischen und antisemitischen Anschläge von Halle und Hanau, NSU 2.0, mehr als 12.000 gewaltbereite Rechtsextreme. Und fast täglich Angriffe auf und Drohungen gegen kommunalpolitisch und zivilgesellschaftlich Engagierte. Wir sehen die Gewalt, den Hass und die Hetze gegen Musliminnen und Muslime, gegen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und Flüchtlinge. Rechtsextreme fühlen sich stark genug, den Sturm auf das Reichstagsgebäude zu proben und auf seinen Stufen die auch von den Nazis genutzte Reichsflagge zu schwenken. Das sind schreckliche Bilder und sie gehen um die Welt.
Viele machen sich deshalb Sorgen um das Bild von Deutschland im Ausland. Ja, ich sorge mich auch, aber nicht so sehr um unser Bild, das wir nach außen abgeben. Sondern um das, was uns nach innen zusammenhält. Deutschland ist ein vielfältiges Land, das seit Jahrzehnten von Migration profitiert. Das sieht man von außen. Aber innen ist das noch nicht überall angekommen. Außen und Innen müssen jedoch einen Gleichklang ergeben. Nur dann sind wir glaubwürdig. Wir tun im Ausland viel für ein modernes, vielfältiges Deutschlandbild. Und wir wollen noch mehr tun: zum Beispiel wenn wir unsere Kultur- und Bildungspolitik auch im Ausland weiter öffnen und Projekte zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus auf internationaler Ebene auflegen. Der Kampf gegen strukturellen Rassismus ist auch eine außenpolitische Aufgabe. Aber das funktioniert nur, wenn dieses Bild sich mit der Realität im Innern deckt. Und da gibt es Nachholbedarf, wenn auch 20 Jahre nach dem ersten NSU-Mord Menschen mit ausländischen Wurzeln in Deutschland das Gefühl haben, dass nicht jeder hier gleichbehandelt wird. Sei es bei der Wohnungssuche, in Vorstellungsgesprächen, bei Behörden. Wenn sie zur Polizei gehen, wird der Migrationshintergrund erfasst. Es gibt einen strukturellen Rassismus in unserem Land. Dabei sind wir längst dieses bunte, vielfältige Land, das einige so vehement ablehnen. Wenn wir es aber nicht schaffen, daraus ein echtes „Wir“ zu machen, verkommt unser eigenes Leitbild zur bloßen Phrase.
Dass wir heute nicht einfach Enver Şimşek gedenken können, ohne über aktuelle Entwicklungen zu sprechen, ist eine Schande. Alle reden über die Täter. Alle reden über die Rechtsextremen. Ich wünsche mir, dass wir über Enver Şimşek reden. Als einen von uns. Solange Enver Şimşek „der Türke“ bleibt, solange nicht alle Envers welche ‚von uns’ werden, solange haben die Rechten leichtes Spiel. Solange Migrantinnen und Migranten in Talkshows nur zu ‚Migrantenthemen’ gehört werden, solange sie in Filmen nur als Migranten besetzt werden und nicht etwa als Kommissarinnen, Bundeskanzler oder Traumschiffkapitäne, solange bleibt dieses Land gespalten.
Heute soll der Tag sein, an dem Enver Şimşeks Geschichte erzählt wird. Ein Mann, der Mitte der 1980er Jahre frisch verheiratet aus der Türkei nach Deutschland kam und am Fließband Autoteile montierte. Der fleißig war und ehrgeizig. Vor allem aber hatte er einen Traum. Enver Şimşek wollte Blumenhändler werden. Ein eigener Laden! Nach Feierabend brachte er sich selbst das Blumenbinden bei, verkaufte die Sträuße am Wochenende am Straßenrand. Dabei war Enver Şimşek so kreativ und so erfolgreich, dass er seinen Fabrikjob aufgeben und bald schon mehrere Mitarbeiter einstellen konnte. Gemeinsam mit seiner Frau und den beiden Kindern lebte er in Hessen, baute sich was auf. Aus dem Blumenladen wurde ein Großhandel, mit mehreren Ständen. Das Geschäft lief gut. So gut, dass er sein Heimatdorf unterstützen konnte, wenn ein Brunnen gebaut oder die Schule renoviert werden musste. Enver Şimşek liebte seine Arbeit, aber am meisten liebte er es im Garten mit Freunden zu grillen und mit der ganzen Familie in den Urlaub zu fahren, so wie sie es jeden Sommer taten. Enver Şimşek wäre inzwischen Großvater. Es ist diese Geschichte, die wir heute erzählen sollten. Die Geschichte Envers – einem von uns.