Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth anlässlich der Übernahme des Vorsitzes der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)

03.03.2020 - Rede

Was haben Berdytschiw in der Ukraine, Gurs in Frankreich, Lety in Tschechien, Malyj Trostenez in Belarus und Staro Sajmište in Serbien gemeinsam?

Während Auschwitz als Synonym für den furchtbarsten Zivilisationsbruch seit Menschengedenken in unser kollektives Gedächtnis eingegangen ist, sind diese Orte weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen.

Es ist traurig, aber kaum jemand in Deutschland weiß heute, dass sie Schauplätze des Holocaust oder des Völkermords an den Sinti und Roma waren. Diese fünf Orte stehen stellvertretend für den „vergessenen Holocaust“.

Erst seit wenigen Jahren werden dort würdige Gedenkstätten geplant, gebaut oder bereits errichtet. Nazis und ihre Helfershelfer sperrten dort Menschen ein, erniedrigten, quälten und ermordeten sie. 75 Jahre sind seitdem vergangen, in der den Opfern ein würdiges Andenken und ihren Angehörigen ein Ort zum Trauern verwehrt blieb.

All diese Orte stehen für die europäische Dimension des Holocaust und des Völkermords an den Sinti und Roma. Er reichte weit über Deutschland und den unmittelbaren Nachbarn Polen hinaus.

Auf polnischem Boden war mit Auschwitz zwar die größte Vernichtungsmaschinerie installiert und die meisten Opfer zu beklagen, doch ging das Grauen weiter, viel weiter.

Berdytschiw etwa steht stellvertretend für die über 2.000 Orte in der Ukraine, an denen Jüdinnen, Juden und Roma bei Massenerschießungen ermordet wurden.

Gurs erzählt die Geschichte der Deportation der Jüdinnen und Juden aus Baden, dem Saarland und der Pfalz in ein französisches Lager nördlich der Pyrenäen.

Das so genannte Zigeunerlager Lety war über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten, erst 2018 wurde die auf dem Gelände errichtete Schweinefarm geschlossen.

Zehntausend jüdische Österreicherinnen und Österreicher wurden neben Deutschen, Tschechen und Belarussen im Wald von Blagowschtschina bei Maly Trostenez ermordet.

Schon im Juni 1942 meldete eine SS-Depesche „Serbien ist judenfrei“. Das ehemalige KZ Sajmište soll in den nächsten Jahren nun endlich zu einer Gedenkstätte für die dort ermordeten Jüdinnen, Juden und Roma umgestaltet werden.

In all meinen Gesprächen und Begegnungen stoße ich auf einen alarmierenden Widerspruch. Einerseits scheinen - zumindest gefühlt - Menschen des Erinnerns an den Holocaust überdrüssig zu sein, er spiele im öffentlichen Raum eine zu große Rolle, unsere Gesellschaft leide an einem Schuldkomplex, nicht nur alte und neue Nazis fordern einen Schlussstrich und eine Hundertachtziggradwende in unserer Erinnerungskultur.

Andererseits sind Wissenslücken über den Holocaust in Deutschland immer noch eklatant – insbesondere bei der jüngeren Generation. Mich schockieren die Ergebnisse einer Umfrage, die der US-Sender CNN 2018 in Deutschland und anderen Ländern durchgeführt hat: 40 Prozent der Befragten im Alter zwischen 18 und 34 gaben dabei an, wenig bis gar nichts über den Holocaust zu wissen.

40 Prozent, das ist beschämend! Und das, obwohl in Deutschland doch der Unterricht über den Holocaust fest im Curriculum aller 16 Bundesländer verankert ist.

Wie wappnen wir also Jugendliche noch besser gegen Hass und Hetze? Ein vielfältiges und weltoffenes Deutschland lässt sich nur verteidigen, wenn wir jungen Menschen ein Bewusstsein für unsere historische Verantwortung vermitteln. Wenn Jugendliche vor dem Hintergrund des Holocaust begreifen, warum der erste Satz unserer Verfassung, des Grundgesetzes, lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – und eben nicht „Die Würde der Deutschen ist unantastbar“.

Gefährlich ist dieses Unwissen über unsere Geschichte besonders in Zeiten, in denen sich in Deutschland und ganz Europa völkisch-nationalistisches Denken seinen Weg in die Parlamente, in die Köpfe und Herzen der Menschen bahnt. Demokratieverachtung, Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Homophobie verbreiten sich immer weiter – nicht nur im Netz, sondern auch in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein oder am Stammtisch.

Und was mit der Verrohung der Sprache beginnt, endet immer häufiger in brutaler Gewalt. Mit den Grenzen des Sagbaren haben sich zunehmend auch die Grenzen des Machbaren verschoben. In Halle hat im vergangenen Oktober nur die massive Tür der Synagoge wie durch ein Wunder ein Massaker an Jüdinnen und Juden verhindert.

In Hanau wurden vor zwei Wochen unschuldige Menschen grausam ermordet, nur weil sie Roma waren, weil sie türkische oder kurdische Wurzeln hatten. Und auch in einer weltoffenen, liberalen Metropole wie Berlin werden Menschen jüdischen Glaubens, die eine Kippa tragen, regelmäßig auf offener Straße beleidigt und attackiert. Das ist die traurige Realität im Jahr 2020.

„Unser Erinnern hat uns gegen das Böse [nicht] immun gemacht. […] Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand“, so brachte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich in seiner Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem auf den Punkt. Und er hat Recht. Aber es sind nicht irgendwelche Geister, die aus dem Dunklen der Vergangenheit empor kriechen. Es sind Menschen, die andere Menschen hassen und ermorden wollen, weil sie anders aussehen, anders denken, glauben und lieben.

Viele Jüdinnen und Juden tragen sich inzwischen wieder mit dem Gedanken, auszuwandern. Auch Angehörige anderer Minderheiten stellen sich die Frage, ob sie in Deutschland noch sicher leben können. Ich schäme mich für diesen deprimierenden Befund.

Wir haben zu lange geschwiegen und abgewiegelt, als rote Linien schleichend und immer wieder überschritten wurden. Es reicht eben nicht mehr, sich in der Mehrheit zu wähnen. Jetzt heißt es für uns als aufrechte Demokratinnen und Demokraten, dagegenzuhalten und sich klar und deutlich von der oftmals lauteren rassistischen und antisemitischen Minderheit klar abzugrenzen. Sonst würden gerade wir als Deutsche uns ein zweites Mal schuldig machen.

Aber mit dieser Bewährungsprobe stehen wir in Deutschland nicht alleine da. Die Zahl der antisemitischen Übergriffe ist 2018 weltweit im Vergleich zum Vorjahr um 13 Prozent gestiegen. Laut einer Studie der Universität von Tel Aviv wurden 2019 die meisten Vorfälle aus großen westlichen Demokratien, darunter die USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland, gemeldet.

Deshalb sind wir als Staatengemeinschaft gemeinsam gefordert, jeglicher Form von Hass und Gewalt gegen Minderheiten entschlossen entgegenzutreten und unsere offene, liberale Gesellschaft zu verteidigen.

Am 27. Januar begingen wir den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Fast die ganze Welt hielt einen Moment inne, um der Opfer zu gedenken. Wir bekannten uns abermals dazu, entschlossen für das „Nie wieder“ einzutreten.

Gedenktage wie der Internationale Holocaustgedenktag und Rituale der Erinnerung sind enorm wichtig. Aber sie reichen nicht aus. Wir müssen auch an den übrigen 364 Tagen des Jahres für eine Welt arbeiten, in der wir alle ohne Angst verschieden sein können.

Genau hier setzt die Internationale Allianz zum Holocaustgedenken an. Die IHRA ist seit 1998 das Forum, das die internationale Zusammenarbeit zum Gedenken an den Holocaust vorantreibt, Bildungsstandards entwickelt, Forschung vernetzt und auch schwierige Aspekte des Gedenkens adressiert.

Die Arbeit der IHRA macht einen Unterschied: Dass der Vatikan beispielsweise gestern endlich seine Archive für die Forschung geöffnet hat, ist nicht zuletzt das Verdienst der IHRA. Das gilt auch für die erwähnte Schweinefarm in Lety, die nun endlich einem Ort des würdigen Gedenkens weichen wird.

Seit ihrer Gründung vor 20 Jahren hat die IHRA nichts an ihrer Bedeutung verloren, ganz im Gegenteil. Mittlerweile zählt sie 34 Mitgliedstaaten, die meisten davon in Europa, aber auch Israel, USA, Kanada, Argentinien und Australien sind dabei. Bereits am 19. Januar sind unter dem Vorsitz Luxemburgs alle Mitglieder der IHRA auf Ministerebene zusammengekommen, um ihre Selbstverpflichtung zu erneuern. Sie erklärten:

Wir nehmen unsere Verantwortung als Regierungen an, weiter zusammenzuarbeiten, um die Leugnung und Verfälschung des Holocaust, den Antisemitismus sowie alle Formen von Rassismus und Diskriminierung zu bekämpfen, die die wesentlichen Grundsätze der Demokratie untergraben. Um diese Ziele zu erreichen, werden wir mit Fachleuten, der Zivilgesellschaft und unseren internationalen Partnern eng zusammenarbeiten.

Weiter heißt es: „Wir setzen uns an die Spitze der Bemühungen, um Aufklärung, Erinnerung und Forschung im Bereich des Holocaust und des Völkermordes an den Sinti und Roma zu fördern, um dem Einfluss von Geschichtsverfälschung, Hetze und Aufwiegelung zu Gewalt und Hass entgegenzuwirken.“

Deutschland hat sich ganz bewusst entschieden, im Gedenkjahr 2020 den Vorsitz der IHRA zu übernehmen und dafür Sorge zu tragen, dass diese Verpflichtungen umgesetzt werden. Wir stellen uns damit unserer historischen Verantwortung und setzen bewusst ein Zeichen in diesen Zeiten, in denen Freiheit, Demokratie und Vielfalt massiv unter Druck geraten sind.

Ich danke Botschafter Georges Santer für seinen engagierten Vorsitz im vergangenen Jahr, auf dem wir in den kommenden Monaten aufbauen wollen. Botschafterin Küchler wird Ihnen unsere Planungen für den deutschen Vorsitz gleich noch im Detail vorstellen. Im Mittelpunkt wird die Bekämpfung von Leugnung und Verfälschung des Holocaust stehen, eines der beiden strategischen Ziele der IHRA.

Alle Mitgliedstaaten der IHRA haben sich dazu verpflichtet, sich ihrer jeweiligen Geschichte zu stellen, indem sie kritisch und wahrheitsgemäß das historische Erbe aufarbeiten. Wir wissen in Deutschland nur zu gut, dass dies ein langer, schmerzhafter Prozess ist. Auch bei uns gab und gibt es auf diesem Weg Rückschläge und schwere Versäumnisse. So hat sich die Bundesregierung erst 1982 zur Verantwortung für den Völkermord an den Sinti und Roma bekannt. Viele Betroffene lebten nicht mehr, als der Bundestag 1999 die Entschädigung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern beschloss.

Auf der Landkarte der europäischen Erinnerungsorte gibt es noch sehr viel zu tun. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, das Bewusstsein für das dunkelste Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte zu schärfen. Wir träumen von einer bunten, vielfältigen und toleranten Gesellschaft, in der es nie wieder einen Platz gibt für Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus. Damit dieser Traum ein für allemal Wirklichkeit wird, brauchen wir Sie alle, anständige Demokratinnen und Demokraten, die Gesicht zeigen, aufstehen, lauter werden und mitkämpfen!

Schlagworte

nach oben