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New Deal: ein neuer europäisch-amerikanischer Schulterschluss als Ausweg aus der Corona-Wirtschaftskrise? - Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich der Hauptveranstaltung des Wirtschaftstages der 19. Botschafterkonferenz

08.06.2021 - Rede

Sie sind hauchdünn und oft kleiner als eine Briefmarke. Sie stecken in unseren Handys, Autos, Kaffeemaschinen und vielem mehr. Sie bündeln Informationen, aber genauso kristallisieren sich in ihnen globale Wirtschaftstrends und auch geopolitische Konflikte. Wahrscheinlich haben viele von Ihnen schon längst erraten, um was es geht. Ich spreche von Halbleiter-Chips.

Und ich erwähne sie deshalb, weil die aktuellen Lieferengpässe bei Halbleitern eines ganz deutlich zeigen: Globale Verflechtung macht auch verwundbar. Das ist das, was wir in den letzten Monaten an vielen Stellen, nicht nur bei Halbleitern, gesehen haben und auch lernen mussten. Und: Die große Geopolitik schlägt immer stärker auf die Geschäfte von Unternehmen weltweit durch. So standen kürzlich im Ford-Werk in Saarlouis – das ist die Ecke, aus der ich komme – vorübergehend die Bänder still, und das nicht nur für 2 Tage, sondern für einige Wochen. Weil die Pandemie und Sanktionen aus der Trump-Zeit die Lieferketten für Halbleiter unterbrochen hatten.

Aber, meine Damen und Herren, unsere Antwort kann nun nicht Abkopplung oder Protektionismus lauten. Leider dient manchen die Krise gerade in der Beziehung auch nur als Vorwand.

Aber gerade wir, als exportorientiertes Land und offene europäische Union, brauchen offene und widerstandsfähige Märkte, die Arbeitsplätze schützen und immer wieder neue schaffen. Die Antwort kann daher nur mehr internationale Zusammenarbeit lauten und nicht weniger.

Und ich sehe vier zentrale Hebel auf internationaler Ebene, die wir neu justieren müssen:

Erstens: Jetzt ist die Zeit für einen engen, wirtschafts- und handelspolitischen Schulterschluss mit den USA. So kann “build back better” auf beiden Seiten des Atlantiks Realität werden – und zwar ganz im Sinne der von Präsident Biden verfolgten “foreign policy for the middle class”.

Offene Streitigkeiten, von denen es bedauerlicherweise ja einige gibt, sollten wir dafür endlich hinter uns lassen. Und wir kommen auch in einigen Bereichen mittlerweile voran: Das Moratorium für die Strafzölle aus dem Airbus-Boeing-Streit, die Entscheidung der EU gegen eine Angleichung der Maßnahmen im Streit um Stahl- und Aluminiumzölle und die Aussetzung von Sanktionen gegen die Betreiberin der Nord Stream 2-Pipeline sind positive Signale.

Die historische Einigung auf eine globale Mindestbesteuerung von Unternehmen von fünfzehn Prozent sowie einer Digitalsteuer beim G7-Finanzminstertreffen letzten Samstag steht auch ganz im Zeichen unserer gemeinsamen Kraftanstrengungen. Damit setzen wir dem globalen Wettrennen um den niedrigsten Steuersatz hoffentlich ein Ende.

Und es gibt weitere gute Ideen für transatlantische Zukunftsprojekte:

Von der Zusammenarbeit bei der Exportkontrolle und Investitionsprüfung, über ein Assoziierungsabkommen zum EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation bis hin zu einem transatlantischen Abkommen zu Künstlicher Intelligenz und Quantencomputing. Dazu gehört auch der von der EU vorgeschlagene „EU-US Handels- und Technologierat“ und die damit verbundene Möglichkeit, gemeinsam Standards für Technologiekonzerne zu entwickeln. Und wir setzen alles daran, beim anstehenden EU-USA Gipfel am 15. Juni in all diesen Punkten auch substantiell voranzukommen.

Zweitens: Joe Biden’s “America is back” eröffnet die Chance, endlich wieder gemeinsam multilaterale Verantwortung zu übernehmen in einer Zeit, in der das mehr denn je nötig ist. Nur wenn wir die regelbasierte internationale Ordnung, offene Gesellschaften und den freien Handel gegen diejenigen verteidigen, die sie in Frage stellen, bleibt unser Wirtschaftsmodell auch international zukunftsfähig.

In einem System globaler Arbeitsteilung bedeutet das auch, Regelverletzungen und Marktverzerrungen klar zu benennen und auch gegenzuhalten. Vollkommen inakzeptabel ist, zum Beispiel, dass deutsche Unternehmen, die ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nachkommen, in China unter Boykott-Druck gesetzt werden.

Wer so etwas rechtzeitig verhindern will, der darf nicht wegsehen, wenn Zivilgesellschaft unterdrückt, Völkerrecht gebrochen und Menschenrechte verletzt werden. Auch hier brauchen wir eine transatlantisch abgestimmte Politik gegenüber Moskau, Peking oder Minsk, die bei besonders gravierenden Verstößen natürlich auch vor Sanktionen nicht Halt machen wird. Und ich bin dankbar für die Bereitschaft der deutschen Wirtschaft, diesen Weg aus Überzeugung mitzugehen.

Und ja, in der Konsequenz bedeutet dies auch, dass wir wirtschaftliche Abhängigkeiten reduzieren und uns breiter aufstellen müssen – gerade im indo-pazifischen Raum. Wir arbeiten deshalb in der Europäischen Union an einer Indo-Pazifik-Strategie, nachdem wir uns im letzten Jahr hier in Deutschland bereits strategische Leitlinien für diese Region gegeben haben. Es geht darum, unsere Beziehungen zu dieser hochdynamischen Region in ganzer Breite zu stärken. Die EU-Freihandelsagenda ergänzt um die EU-Asien-Konnektivitätsstrategie sind dabei ganz wichtige Bausteine.

Ein dritter Hebel ist die Handelspolitik. Hier stehen wir, wie ich glaube, am Scheideweg. Denn wenn es uns nicht gelingt, Freihandel überzeugend zu verbinden mit hohen sozialen und ökologischen Standards, dann wird der Rückhalt für Freihandelsabkommen und für die Globalisierung an sich in unserer Gesellschaft weiter bröckeln. Und das wäre für unser Land und für uns in Europa brandgefährlich.

Deshalb müssen wir die politische und geoökonomische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union auch weiter stärken. „Offene strategische Autonomie“ als Verbindung von Offenheit, Nachhaltigkeit und Durchsetzbarkeit ist hier das Stichwort, mit dem wir uns auseinandersetzen.

Dazu gehört natürlich, Abhängigkeiten in strategischen Bereichen zu verringern, wie wir es zum Beispiel mit der EU-Industriestrategie und der Forschungsinitiative BATTERY 2030+ schon tun. Vor allem brauchen wir aber Partnerschaften mit der Industrie und der Wissenschaft für digitalen und grünen Wandel, so wie die EU sie etwa bei Halbleitern und Batteriezellen bereits anbietet. Und ich freue mich, dass Valdis Dombrovskis, uns darüber später sicherlich noch mehr berichten wird.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, in dem sich alle anderen Punkte aber auch bündeln: Nur eine souveräne Europäische Union ist ein starker und attraktiver internationaler Partner.

Nur eine souveräne EU kann ihre eigene Stärke nach außen entfalten und eine krisenfeste Zukunft gestalten. In Zeiten, in denen technologischer Vorsprung zur entscheidenden Machtressource geworden ist, bedeutet das vor allem: Wir müssen in Europa über Schlüsseltechnologien selbst verfügen und diese entwickeln. Dafür nehmen wir immer mehr Geld in die Hand – etwa für Digitalisierung gerade auch im EU-Wiederaufbauprogramm.

Wir brauchen zudem auch ein besseres Regelwerk zum Schutz eben dieser Schlüsseltechnologien, so wie wir es mit dem neuen IT-Sicherheitsgesetz und der Novellierung der Außenwirtschaftsverordnung bereits auf den Weg gebracht haben.

Und wir müssen den Innovationstreibern in unserem Land ganz besonders den Rücken stärken. Das gilt insbesondere für den Mittelstand in Deutschland.

Wir erleben im Ausland immer wieder, dass unsere Mittelständer bei großen Ausschreibungen den „Kürzeren“ ziehen. Trotz höherer Qualität des deutschen Angebots wird konkurrierenden Großkonsortien der Vorzug gegeben, weil sie eben alles aus einer Hand anbieten oder vorgeben anzubieten. Hier sollten wir gemeinsam Lösungen entwickeln, wie wir zum Beispiel durch Plattformen und Kooperationen zwischen Großunternehmen, KMUs und Start-Ups Abhilfe schaffen können.

Denn wie Sie, liebe Frau Braun, kürzlich in einem Podcast gesagt haben: die Innovationskraft muss aus den eigenen Unternehmen kommen. Wir können sie aber mit den richtigen Rahmenbedingungen dabei unterstützen.

Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in der Pandemiebekämpfung:

Ohne die Innovationskraft und das Engagement der Wirtschaft können wir diese Krise nicht in den Griff bekommen. Und dass heute sagen können, es ist Licht am Ende des Tunnels, hat auch etwas damit zu tun. Länder, die von der Covid-Pandemie besonders schwer getroffen wurden, haben wir gemeinsam schnell unterstützt – zuletzt Indien mit Medikamenten, Beatmungsgeräten und einer Sauerstofffabrik.

Und kein anderer Wirtschaftraum hat mehr Impfstoff exportiert als die Europäische Union, auch wenn uns andere etwas anderes glauben lassen wollen. Gleichzeitig ist Team Europe einer der wichtigsten Geldgeber für die Impfplattform COVAX. Darüber konnten bislang über 77 Million Dosen in 127 Länder geliefert werden. Und nur wenn wir eine weltweit sichere, bezahlbare Impfstoffproduktion und einen gerechten globalen Zugang dazu sicherstellen können, dann werden wir auch die Diskussionen über die Aussetzung geistiger Eigentumsrechte wieder vom Kopf auf die Füße stellen können.

Sie, Frau Bendiek, haben das Erfolgsrezept im Handelsblatt kürzlich auf den Punkt gebracht, indem Sie sagten: „wer Innovation kann, der kann auch Krise“.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

in den vergangenen Monaten haben auch wir als Europäer gezeigt, trotz aller Unkenrufe, die es immer wieder gegeben hat, dass wir auch Krise können - zumal wir mit den USA unter Joe Biden endlich wieder überzeugte Multilateralisten an unserer Seite haben. Jetzt geht es darum, die riesigen Wiederaufbauprogramme, unsere neuen Regeln und Vorhaben so umzusetzen, dass daraus das nachhaltige, klimaneutrale Wirtschaftsmodell der Zukunft entsteht. Ein Modell, das dem Anspruch „build back better“ wirklich auch gerecht wird.

Herzlichen Dank!

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