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„Ich weiß nicht, ob man das überhaupt heilen kann“

20.08.2021 - Interview

Außenminister Heiko Maas im Interview mit Spiegel Online zur aktuellen Situation in Afghanistan und zu den Evakuierungsflügen.

Frage: Herr Maas, haben Sie in den vergangenen Tagen an Rücktritt gedacht?

Außenminister Heiko Maas: Ob Sie es glauben oder nicht: In den vergangenen Tagen habe ich nur an eines gedacht, nämlich aus den Fehlern, die wir alle gemacht haben, die Konsequenz zu ziehen und dafür zu sorgen, so viele Leute aus Afghanistan rauszuholen wie möglich. Das ist die verdammte Pflicht von jedem, der an der Entwicklung der letzten Tage und Wochen beteiligt war.

Frage: Sie haben eingestanden, die Lage falsch eingeschätzt zu haben. Die Folge dieses deutschen Irrtums sind Chaos und Verzweiflung in Afghanistan. Es haben schon Bundesminister aus geringeren Gründen ihre Ämter aufgegeben.

Maas: Niemand kann ernsthaft abstreiten, dass es Fehleinschätzungen gegeben hat. Wir müssen das alles aufbereiten. Von den konkreten Abläufen in den letzten Tagen und Wochen bis hin zu politischen Fragen, die sich für uns in Deutschland, aber auch für die internationale Staatengemeinschaft stellen. Menschen aus Afghanistan, die sich jetzt an uns und mich wenden, wollen vor allem eines: Hilfe, jetzt.

Frage: Glauben Sie, Sie können Ihre Fehler durch die Evakuierungsoperation heilen?

Maas: Ich weiß nicht, ob man das überhaupt heilen kann. Aber die Menschen, die am Flughafen von Kabul stehen, erwarten zu Recht, dass wir uns um sie kümmern und sie da rausholen. Ich will dazu beitragen, dass nach unseren Fehlern nicht auch noch verzweifelte Menschen im Stich gelassen werden.

Frage: Jetzt läuft eine lebensgefährliche Evakuierungsoperation – werden Sie auch im Amt bleiben, wenn Retter oder Ortskräfte verletzt oder getötet werden?

Maas: Ich habe großen Respekt vor den Soldatinnen und Soldaten sowie den anderen Deutschen, den Polizisten, Diplomaten und allen anderen. Das ist ein sehr gefährlicher Einsatz. Aber wir haben alles dafür getan, dass die Evakuierung verantwortbar bleibt – wie andere Nationen auch.

Frage: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Afghanistan-Desaster?

Maas: Neben den konkreten Frage nach den Abläufen in den letzten Tagen, Wochen und Monaten stellen sich große politische Fragen: Wie wollen wir in Zukunft internationale Verantwortung übernehmen? Eines steht für mich fest: Das Ergebnis dieses Prozesses darf nicht sein, dass wir international keine Verantwortung mehr übernehmen. Die Frage ist, wie wir es tun wollen. Es wird sich die Frage stellen, ob die Nato ein reines Verteidigungsbündnis ist oder ob diese Organisation auch geeignet ist, Einsätze dieser Art zu führen.

Frage: Welche Art Einsätze meinen Sie?

Maas: Einsätze, die außerhalb des eigentlichen Auftrags der Nato liegen. Der Grund für

den Afghanistan-Einsatz waren die Anschläge vom 11. September 2001. Die Nato-Mission sollte sicherstellen, dass vom afghanischen Boden aus keine terroristischen Anschläge mehr verübt werden. Als dies erreicht war, ging der Einsatz aber trotzdem weiter. Plötzlich ging es um die Zukunft von Afghanistan: Ist es unsere Aufgabe, für Frieden zu sorgen? Für die Einhaltung der Menschenrechte? Gehört es auch dazu, unsere Staatsform zu exportieren? Das ist in Afghanistan auf jeden Fall gescheitert. Trotzdem bleibt die Frage, ob solche Missionen nicht auch in Zukunft unter Nato-Führung möglich sein müssen.

Frage: Die Nato soll politischer werden?

Maas: Ohne Zweifel, ja. Diese Debatte führen wir ja seit einiger Zeit auch. Zuweilen werden die Entscheidungen der Nato faktisch in Washington getroffen, und die Nato in Brüssel hat kaum die Möglichkeit, mitzusprechen, sondern operationalisiert sie nur noch. Wir müssen viel politischer diskutieren, ehe wir unsere Soldaten irgendwo hinschicken. Sonst besteht die Gefahr, dass wir immer nur die Entscheidungen Washingtons nachvollziehen, egal, wer dort Präsident ist.

Frage: Ist die drängendere Frage nicht, wie Deutschland und Europa sich endlich aus der militärischen Abhängigkeit von den USA lösen?

Maas: Wir werden uns innerhalb Europas Gedanken darüber machen müssen, den europäischen Pfeiler in der Nato zu stärken. Denn die Realität ist die, dass die Amerikaner vieles entscheiden und wir folgen, weil wir überhaupt nicht in der Lage sind, ohne die USA schwierige internationale Missionen durchzuführen. Das Scheitern in Afghanistan darf nicht dazu führen, dass wir uns außen- und sicherheitspolitisch komplett der Verantwortung auf der Welt verweigern. Aber Afghanistan darf sich auch nicht noch einmal wiederholen.

Frage: Ex-US-Präsident Donald Trump hat mit den Taliban verhandelt, ohne die Regierung in Kabul einzubeziehen. Sein Nachfolger Joe Biden hat dann die US-Truppen abgezogen, ohne ein Abkommen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban abzuwarten. Welcher Fehler wiegt schwerer?

Maas: Die Trump-Regierung hat ja nicht nur die afghanische Regierung von den Gesprächen mit den Taliban ausgeschlossen, sondern auch die internationalen Bündnispartner. Das Ergebnis war eine Vereinbarung, dass die USA und damit auch alle anderen ausländischen Truppen Afghanistan Anfang Mai dieses Jahres verlassen sollen. Nach dem Wechsel im Weißen Haus haben wir mit Großbritannien, Frankreich und anderen Nato-Verbündeten die Regierung von Joe Biden gefragt, was aus dieser Entscheidung wird. Und alle Partner waren dafür, dass wir den Abzug nicht an einen Zeitplan, sondern an Bedingungen knüpfen.

Frage: Daran hat sich die Regierung Biden aber letztlich nicht gehalten.

Maas: Nein. Sie hat einen zeitlich definierten Abzug vorgezogen, auch mit der Begründung, dass es zu einem Krieg mit den Taliban kommen könnte, wenn die ausländischen Truppen über den Mai hinaus in Afghanistan bleiben. Wir hätten uns den Abzug der US-Truppen anders vorgestellt. Aber die Schuld für die Entwicklung liegt schon bei Bidens Vorgänger.

Frage: Der Bundesnachrichtendienst hat die Eskalation der Lage nicht vorhergesehen. Haben die Dienste versagt?

Maas: Ich halte nichts von der Debatte, wer am meisten Schuld auf sich geladen hat. Aber die Fehler müssen analysiert werden.

Frage: Hat der BND Fehler gemacht?

Maas: Der BND hat offensichtlich eine falsche Lageeinschätzung vorgenommen, so wie andere Dienste auch. Die informieren sich ja gegenseitig und haben falsche Einschätzungen voneinander übernommen. Das muss sich ändern. In Zukunft sollte man die Erkenntnisse anderer Dienste noch einmal sehr intensiv überprüfen. Die Entscheidungen, die aufgrund dieser fehlerhaften Berichte getroffen wurden, sind nach bestem Wissen und Gewissen gefallen. Aber sie waren im Ergebnis falsch, mit katastrophalen Folgen. Das kann nicht ohne Konsequenzen für die Arbeitsweise unserer Dienste bleiben.

Frage: Nach unseren Recherchen haben sich Ihr Haus sowie die Ministerien für Inneres, Verteidigung und Entwicklung über die Rückholung der Ortskräfte in bürokratischen Streitereien verheddert. Ist die Bundesregierung im Krisenfall nicht handlungsfähig?

Maas: Auch da hätte man sicherlich vieles besser machen können. Man hätte zum Beispiel von Anfang an, so wie von unserem Haus und dem Verteidigungsministerium vorgeschlagen, die Visa erst bei Ankunft in Deutschland ausstellen können. Darauf konnten wir uns aber innerhalb der Bundesregierung erst in den letzten Tagen einigen.

Frage: Aber auch Ihr Amt ist der Argumentation der afghanischen Regierung gefolgt, die vor einem Zusammenbruch gewarnt hat, wenn viele Ortskräfte frühzeitig ausgeflogen werden.

Maas: Die afghanische Regierung hatte die ganze Zeit über kein Interesse daran, dass Ortskräfte das Land verlassen. Sie hat sich geweigert, beschleunigt Reisepässe für diese Gruppe auszustellen. Die Regierung Ghani befürchtete infolge der Bilder einen Massenexodus und einen Zusammenbruch der staatlichen Strukturen und der Streitkräfte. Wenn die Regierung eines Landes uns mit derartigen Prognosen konfrontiert, können wir das nicht einfach ignorieren.

Frage: Nachdem der Präsident außer Landes geflüchtet ist und sich die Streitkräfte vielerorts kampflos ergeben haben — was denken Sie im Nachhinein über diese Warnungen der afghanischen Regierung vor einem Exodus der Ortskräfte?

Maas: Das Verhalten der afghanischen Regierung und der Streitkräfte ist wirklich kaum zu fassen. Die wahren Gründe dafür zu analysieren, ist wichtig für jedes zukünftige Engagement.

Frage: Jetzt wollen die Taliban die afghanischen Ortskräfte nicht aus dem Land lassen. Ihr Botschafter Markus Potzel verhandelt darüber mit der Taliban-Führung in Doha. Welchen Preis ist die Bundesregierung bereit, zur Rettung dieser Menschen zu zahlen?

Maas: Wir führen die Gespräche mit den Taliban, weil es keine Alternative dazu gibt. Es wird darum gehen, eine Regelung zu finden, auf deren Basis Ortskräfte jetzt sicher zum Flughafen kommen und von der Bundeswehr ausgeflogen werden können. Es wird aber auch um zivile Charterflüge für weitere Menschengruppen in den kommenden Wochen gehen. Es wäre unverantwortlich, darüber nicht auch mit den Taliban zu sprechen.

Frage: Das heißt, es könnte Geld fließen?

Maas: Es geht nicht darum, Lösegeld zu zahlen. Wir müssen schnell eine Lösung finden, aber wir sind nicht bereit, jeden Preis zu bezahlen.

Frage: Wie werden Sie reagieren, wenn die Taliban fordern, dass Deutschland weiterhin Entwicklungsprojekte finanziert?

Maas: Wir wollen allen Ortskräften, auch der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und der Entwicklungshilfe eine Evakuierung ermöglichen. Also wird es in Kürze zunächst einmal keine Menschen mehr geben, die Entwicklungsprojekte durchführen können. Im Moment hat für uns Priorität, erstmal die humanitäre Hilfe weiter zu organisieren, und zwar so, dass sie bei denen ankommt, die sie brauchen.

Frage: Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat den Vorschlag gemacht, die Ortskräfte zurück bis 2013 zu evakuieren, der Entwicklungsminister hat sich gegen diese Idee gestellt. Wo standen Sie in diesem Konflikt?

Maas: Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen diese Diskussionen im Einzelnen aufzublättern. Im Zweifel wissen Sie es ja ohnehin. Es wurde jedenfalls über diese Frage gesprochen. Die etwa 2500 Ortskräfte der Bundeswehr hatten Priorität, weil sie am meisten gefährdet sind. Wenn man die Ortskräfte der Entwicklungshilfe sowie Menschenrechtsverteidiger

hinzunimmt, sprechen wir insgesamt über 10.000 Personen.

Frage: Ihren Koalitionspartner, die Union, treibt erklärtermaßen die Angst, dass die Flüchtlingskrise von 2015 sich wiederholen könnte. Sehen Sie das auch so?

Maas: Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 wird sich nicht wiederholen, dazu sind die Bedingungen heute zu unterschiedlich. Aber wir müssen damit rechnen, dass es in Afghanistan in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten viele Flüchtlinge geben wird. Und aufgrund der genannten Fehler und Versäumnisse der letzten Wochen sehe ich uns auch in der Verantwortung, einer Flüchtlingsbewegung nicht tatenlos zuzusehen.

Frage: Wären Sie bereit, Flüchtlingskontingente über die Ortskräfte hinaus in Deutschland aufzunehmen?

Maas: Wir sprechen darüber mit unseren europäischen Verbündeten. Zunächst einmal sollten wir dafür sorgen, dass wir die Nachbarstaaten Afghanistans dabei unterstützen, mit den Flüchtlingen gut umzugehen, sobald sie kommen.

Frage: Mit wie vielen Flüchtlingen rechnen sie?

Maas: Im Innenministerium rechnet man mit Zahlen zwischen 500.000 und fünf Millionen. Wie viele es sein werden, kann niemand im Moment seriös prognostizieren. Aber es wird mehr Flüchtlinge geben, so viel ist sicher.

Frage: Nach dem verstolperten Impfstart und dem mangelnden Katastrophenschutz bei der Flut ist es nun das dritte Mal, dass den Deutschen vorgeführt wird, wie ihr Staat an einer akuten Krise scheitert. Kann dieses Vertrauen wieder hergestellt werden?

Maas: Die Bilder, die wir in den letzten Tagen aus Afghanistan gesehen haben, sind so schrecklich und verstörend, dass es niemanden unberührt lässt. Aber bei aller Dramatik gehört zur Wahrheit dazu, dass wir mittlerweile mehr als 1000 Menschen ausgeflogen haben. Ob daraus die Allgemeinheit den Schluss zieht, dass der deutsche Staat nicht mehr handlungsfähig ist? Ich glaube das nicht.

Frage: Warum sollten die Deutschen darauf vertrauen, dass es beim nächsten Mal besser läuft?

Maas: Wer das Risiko, Fehler zu machen, ausschließen will, endet im Nichtstun. Das kann auch keine Alternative sein. Wichtig ist, dass wir als Politiker zeigen, dass wir daraus die richtigen Konsequenzen ziehen. Ich stimme Ihnen auch nicht zu, dass wir als Bundesregierung die Dinge permanent gegen die Wand fahren. Schauen Sie sich an, wie gut Deutschland im internationalen Vergleich durch die Coronakrise gekommen ist. Oder dass sich Bund und Länder nach der Flutkatastrophe innerhalb kürzester Zeit darauf geeinigt haben, 30 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Wir sind weit davon entfernt, alles richtig zu machen. Aber im internationalen Vergleich – und den bekomme ich oft zu hören – gilt Deutschland nicht gerade als failed state.

Frage: 59 deutsche Soldaten sind im Afghanistan-Krieg getötet worden, viele weitere wurden teils schwer verletzt. Waren diese Opfer letztlich umsonst?

Maas: Diejenigen, die in den 20 Jahren in Afghanistan gewesen sind, haben dazu beigetragen, dass die Lebenserwartung in diesem Land höher geworden ist und die Kindersterblichkeit gesunken ist. Dass Mädchen in die Schule gehen, Frauen studieren konnten. Dass Menschenrechte geachtet wurden. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese Errungenschaften nicht völlig verloren gehen. Aber die Soldatinnen und Soldaten, die dort im Einsatz waren, haben ganz konkret dafür gesorgt, dass Menschenleben gerettet und bewahrt worden sind. Das kann ihnen niemand nehmen.

SPIEGEL: Viele Afghanistan-Veteranen beklagen die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung. Wird die Bundesregierung nach der Katastrophe der letzten Tage den Afghanistan-Einsatz noch feierlich würdigen?

Maas: Das ist das Mindeste. Wir müssen aber auch eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, dass den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz die notwendige Anerkennung zukommt. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Bewaffnete Soldaten waren die Grundlage dafür, dass in Afghanistan Straßen, Krankenhäuser und Schulen gebaut werden konnten.

[...]

Spiegel: Herr Minister Maas, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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