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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock zum 75. NATO Jubiläum im Bundestag

04.07.2024 - Rede

Wasyl ist Anfang dreißig und zum dritten Mal an der Front.

Das erste Mal war 2014, als die Russen kamen, um Mariupol einzunehmen, und er sich bei der ukrainischen Armee meldete, um seine Heimatstadt zu verteidigen.

Später arbeitete er in Kyjiw für ein internationales Unternehmen, lernte perfekt Englisch, fuhr am Wochenende, wie so viele, mit seinen internationalen Freunden auf die Datscha. Als die Russen im Februar 2022 erneut in die Ukraine einfielen, ging Wasyl zurück in die Armee. In der Schlacht um Bachmut verlor er seinen Unterschenkel. Während der Reha heiratete er seine Freundin.

Heute ist Wasyl wieder an der Front, auf eigenen Wunsch.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nächste Woche trifft sich in Washington die erfolgreichste Verteidigungsallianz der Welt, eine Allianz, die, wie Präsident Truman 1949 zur Gründung sagte, vereint ist im „peaceful way of life“ - seit 75 Jahren -, um Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu schützen, damit man sich, wie es Truman interessanterweise dann weitergehend formulierte, auf das „wahre“ Geschäft als Regierung und Gesellschaft konzentrieren könne: „Achieving a fuller and happier life for all our citizens.“

Und genau das greift Putin seit zweieinhalb Jahren an: das gemeinsame Leben aller unserer Gesellschaften und Bürgerinnen und Bürger in Frieden und in Freiheit.

Genau deswegen sind Männer wie Wasyl zum dritten Mal an der Front: um ihren Way of Life in Freiheit in Europa zu verteidigen.

Und genau deswegen feiern wir nicht nur beim Gipfel, beim Jubiläum in Washington, sondern besprechen auch intensiv, wie wir unsere Unterstützung für die Ukraine weiter ausbauen können.

Denn Putins Gleitbomben greifen nicht nur jeden Tag ukrainische Kraftwerke und Wohnhäuser an, sie greifen damit jeden Tag auch unseren Way of Life in Freiheit in Europa an. Seine Bomben meinen auch uns.

Deswegen muss uns nächste Woche in Washington klar sein: Putins Russland wird auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für unsere Sicherheit und Freiheit in Europa bleiben. Wir haben uns das nicht ausgesucht! Wir wollten das nicht. Aber es ist unsere Zeit, und wir müssen unsere Politik darauf ausrichten.

Unsere Sicherheit und unsere Freiheit werden nicht in Quartalszahlen oder in Legislaturperioden berechnet. Unsere Kinder werden uns irgendwann fragen, und zwar nicht in 75 Jahren, wenn wir wahrscheinlich alle nicht mehr hier sein werden, sondern in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren: was habt ihr getan, um unsere Demokratie und unsere Freiheit zu schützen? Wie viel war euch unser Europa in Freiheit wert?

Deswegen investieren wir in unsere eigene Wehrhaftigkeit, so wie wir es als Bundesregierung in der Nationalen Sicherheitsstrategie gemeinsam mit den demokratischen Parteien verankert haben. Indem wir dauerhaft 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für unsere Sicherheit bereitstellen, indem wir den Schutz der NATO-Ostflanke permanent durch eine kampfbereite Brigade in Litauen sichern und vor allen Dingen, indem wir die Ukraine weiter unterstützen.

Und ja, Kollegen von der AfD, das kostet Geld. Das ist kein Geheimnis. Das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Aber haben Sie sich ein Mal die Frage gestellt, was es kosten würde, wenn wir unseren Frieden und unsere Freiheit nicht schützen würden? Das wäre für unsere Kinder unbezahlbar.

Ich will deswegen sagen, weil es mich dann doch sehr irritiert: Die Unterstützung der Ukraine ist doch keine Charity-Geste. Es ist eine Investition in unsere eigene Sicherheit, in unsere eigene Freiheit.

Oder wie es meine lettische Amtskollegin in dieser Woche sagte: „Für uns ist Frieden keine theoretische Debatte. Wir grenzen direkt an Russland, andere an Belarus und die Ukraine. Wenn ihr nicht da seid, wer ist dann da?“

Wenn Russland in der Ukraine scheitert, dann sind Lettland und das gesamte Baltikum gesichert. Aber der Umkehrschluss gilt auch, und Sie müssen sich fragen, wenn Sie sagen, wir wollen die Ukraine nicht weiter unterstützen: Was bedeutet es für Lettland, was bedeutet es für unsere osteuropäischen Nachbarn, wenn Russland in der Ukraine gewinnt?

Denn es ist klar: Dieser imperiale Anspruch, den Putin in seinen Reden immer wieder formuliert, ist auch an uns gerichtet.

Niemand weiß, wie die nächsten Wochen und Monate ausgehen werden. Aber was wir wissen, unabhängig vom Wahlausgang in den USA, ist doch: Die NATO muss europäischer werden, damit sie transatlantisch bleibt.

Das Gute ist, das wir gerade in dieser Woche in Polen genau diesen Prozess weiter vertieft haben. Putin wollte uns als NATO spalten und schwächen. Er hat genau das Gegenteil erreicht. Wir haben nicht nur mit Finnland und Schweden zwei starke Alliierte dazugewonnen, sondern wir haben Europa insgesamt stärker gemacht: über eine gemeinsame europäische Rüstung sowie die European Sky Shield Initiative. Und indem wir unsere Partner im Baltikum, in Polen und in Rumänien weiter unterstützen und dabei Vertrauen zurückgewinnen. Vertrauen, das wir durch die Russlandpolitik der Vorjahre verloren hatten, Vertrauen, das wir jetzt durch die Zeitenwende und unsere Investitionen in Europa und die NATO wieder verstärken. Das dürfen wir, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen - gerade auch in den Haushaltsdebatten -, nicht verspielen.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir deutlich machen: Die deutsche Zeitenwende ist kein Strohfeuer, sondern eine Neuausrichtung, die auch über Wahlperioden hinaus trägt, eine dauerhafte Investition in unsere Sicherheit, in unseren Way of Life von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Europa.

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