Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

„Sicherheit ist die Frage unserer Zeit“ - Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der Süddeutschen Zeitung

16.06.2024 - Interview

Frage:

Frau Außenministerin, Präsident Selenskij hat in Berlin die Zerstörung der Stromversorgung durch Russland geschildert und flehentlich um mehr Flugabwehrsysteme gebeten. Kann die Ukraine diesen Krieg überhaupt noch gewinnen?

Annalena Baerbock:

Ja. Und verlieren wäre fatal – für eine freie Ukraine und für ein freies Europa. Die Menschen erleben jeden Tag, wie brutal Putin zuschlägt und zerstört. Man muss sich selber nur vorstellen, man liegt im Krankenhaus, und plötzlich fällt der Strom aus, weil ein Kraftwerk getroffen wurde. Oder man ist bei minus 15 Grad komplett von Wasser und Wärme abgeschnitten. Deswegen braucht es gerade jetzt dringend mehr Unterstützung. Denn derzeit kann die Ukraine nicht gleichzeitig ihre Städte und ihre kritische Infrastruktur schützen. Daher mein eindringlicher Appell an alle Partner weltweit, weitere Flugabwehrsysteme abzugeben. Italien hat in Berlin dankenswerterweise angekündigt, ein weiteres zu liefern.

Frage:

Deutschland könnte auch mehr tun, etwa den Marschflugkörper „Taurus“ liefern.

Annalena Baerbock:

Mit den Nachschublinien steht und fällt der russische Vormarsch. Wir haben gesehen, wie wichtig weitreichende Systeme oder Marschflugkörper aus den USA, Frankreich oder Großbritannien sind. Damit konnten etwa die russischen Kriegsschiffe im Schwarzen Meer zurückgedrängt und der für die Versorgung der Welt so wichtige Getreidekorridor geöffnet werden.

Frage:

Frankreichs Präsident Macron sagt, man dürfe nichts ausschließen, um der Ukraine beizustehen. Pflichten Sie dem bei?

Annalena Baerbock:

Als ich in Butscha war nach den furchtbaren Verbrechen dort an der Zivilbevölkerung, dachte ich: Das könnten wir sein. Wir müssen jetzt alles tun. Zugleich ist klar: Wir tragen ebenso Verantwortung dafür, dass wir nicht in diesen Krieg hineingezogen werden. Deswegen gab und gibt es keine Blankoschecks. Die Ukraine braucht weitere, intensivere Unterstützung. Sie zu leisten, ist absolut in unserem eigenen Interesse. Es geht um unseren Frieden hier in Europa. Wir sollten jedoch nicht – da bin ich beim französischen Präsidenten – ständig und überall diskutieren, wie die Ukraine sich am besten verteidigt. Das nützt nur einem: dem russischen Aggressor.

Frage:

Mit welchen Folgen muss Europa rechnen, wenn es nicht gelingt, die Lage zu stabilisieren?

Annalena Baerbock:

Wenn die Ukraine sich nicht mehr verteidigen kann – und das sage ich gerade in Richtung derjenigen, die eine Unterstützung ablehnen – dann werden weitere Millionen Menschen fliehen müssen. Denn wer lebt schon freiwillig unter Folter und Besatzung? Die jüngsten Berichte über Vergewaltigungen in besetzten Gebieten und Verschleppung von Kindern zeigen: Die Menschen müssten sich auf das Allerschlimmste einstellen.

Frage:

AfD und BSW fordern trotzdem, man solle das Geld für die Ukraine hierzulande ausgeben. Was halten Sie dem entgegen?

Annalena Baerbock:

Ich sehe es als unsere Verpflichtung an, den Menschen in der Ukraine beizustehen. Aber selbst wenn einem das egal ist: Wenn wir die Ukraine nicht weiter unterstützen, dann gehen wir das Risiko ein, dass Putins Truppen an der Grenze zu Polen stehen. Da ist der Krieg schnell auf dem Gebiet von EU und Nato. Es ist kaum zu beziffern, wieviel es kosten würde, wenn wir unsere Freiheit und Sicherheit selbst verteidigen müssten. Es geht letztlich auch um eins: Die Ukraine-Unterstützung hält den Krieg auch von uns weg.

Frage:

Es besteht der Verdacht, dass der Kreml deutsche Politiker bezahlt, Einflussoperationen vorantreibt und sogar Sabotageaktionen. Ist der Konflikt nicht längst hier?

Annalena Baerbock:

Wir waren zu lange naiv, haben vor Putins Brutalität die Augen verschlossen. Der Kreml betreibt in ganz Europa Destabilisierung – mit Cyberangriffen, mit politischen Morden. Putins Kriegsführung ist auch gegen uns gerichtet. Er will die Friedensordnung in Europa zerstören und damit so viele liberale Demokratien wie möglich. Dafür hat er auch Handlanger am ganz rechten und linken Rand in unseren Parlamenten, die seine Propaganda eins zu eins übernehmen.

Frage:

Fürchten Sie auch bei der Bundestagswahl 2025 Einflussoperationen?

Annalena Baerbock:

Ja. Schon bei der letzten Bundestagswahl habe ich als Kanzlerkandidatin aufgrund meiner kritischen Haltung zu Nord Stream 2 persönlich erleben müssen, mit welcher Wucht russische Fake News zuschlagen. Auch andere europäische Länder erfahren das, weswegen wir gerade mit Polen und Frankreich unsere Zusammenarbeit bei der Abwehr von Desinformation verstärken. Mit unserer Nationalen Sicherheitsstrategie, die vor einem Jahr unter Federführung des Auswärtigen Amtes für die Bundesregierung veröffentlicht wurde, nehmen wir innere und äußere Sicherheit viel stärker gemeinsam in den Blick.

[…]

Frage:

In Ihrer Partei hat viele befremdet, dass Sie härteren EU-Asylregeln zugestimmt haben. Verstehen Sie die Enttäuschung?

Annalena Baerbock:

Wo die Grünen, wo ich beim Thema Menschenrechte stehe, ist klar. Und gleichzeitig: Unser Land ist ein Einwanderungsland. Das bringt Herausforderungen mit sich. Wenn wir uns dem nicht gemeinsam offensiv stellen, dann füllen andere die Lücke.

Frage:

Der Kanzler will bei schweren Straftaten Menschen auch nach Afghanistan oder Syrien abschieben. Befürworten Sie das?

Annalena Baerbock:

Jeder, der sieht, wie der Angreifer von Mannheim auf einen Polizisten einsticht, oder sich an die Gruppenvergewaltigung einer 14-Jährigen erinnert, muss zum Schluss kommen: Wer Schutz in unserer liberalen Demokratie sucht, verwirkt den Anspruch darauf, wenn er sie zerstören will. Daher haben solche Schwerverbrecher nach der Verbüßung ihrer Strafe in unserem Land nichts verloren. Zugleich ist die Umsetzung, wenn Täter aus Terrorregimen kommen, alles andere als trivial. Das sehen wir auch in anderen Ländern Europas. Ähnlich wie sie sollten wir uns gemeinsam national und europäisch die Frage stellen, inwieweit man erweiterte Verfahren bei Abschiebehaft bzw. Sicherungsverwahrung für solche Schwerverbrecher in Betracht ziehen kann.

[…]

Frage:

Ihnen schlagen Proteste entgegen wegen des Kriegs im Gazastreifen. Warum dringen Sie immer weniger durch mit dem Appell, das Leid auf beiden Seiten zu sehen?

Annalena Baerbock:

Der 7. Oktober hat furchtbares Leid über die Menschen in Israel angebracht. Und über die Menschen in Gaza. Ich verstehe, wie sehr dies aufwühlt. Auch ich könnte immer wieder verzweifeln, wenn ich diese schrecklichen Bilder von Kindern in Gaza sehe. Oder wenn ich mit Angehörigen der nach wie vor mehr als 100 israelischen Geiseln spreche. Aber mein Job ist es, gerade nicht aufzugeben. Das bedeutet: noch mehr diplomatische Bemühungen, immer wieder beide Seiten zu sehen. So fern es auch scheint: Palästinenser werden nur sicher und selbstbestimmt leben können, wenn Israel sicher ist. Und Israelis werden auf Dauer nur in Sicherheit leben können, wenn Palästinenser sicher in ihrem eigenen Staat leben.

Frage:

Die Vereinten Nationen werfen Israel Kriegsverbrechen vor. War es ein Fehler, die Kriegsführung Israels im Gazastreifen nicht früher und deutlicher zu kritisieren?

Annalena Baerbock:

Mich leitet unsere Verantwortung für Israels Sicherheit und unsere Verantwortung für das humanitäre Völkerrecht. Manchmal kommt man nur voran, wenn man Dinge hinter verschlossenen Türen bespricht. Manchmal muss man sie öffentlich aussprechen. Das Ziel ist immer dasselbe: Wie kann das Leid von zwei Millionen Palästinensern beendet werden, wie kommen die Geiseln der Hamas frei. Man muss realistisch sein, was in der eigenen Hand liegt: Manchmal heißt das, kleine Schritte zu gehen und Monate darauf hinzuarbeiten, die Kinder eines SOS-Kinderdorfs aus Gaza in Sicherheit zu bringen. Oder zu kämpfen für jeden einzelnen Truck mit Hilfsgütern, der zu den Menschen in Gaza kommt. Das ist meine Aufgabe, solange die Feuerpause und ein langfristiger Friedensplan, an dem wir mit arabischen Partnern, den Amerikanern und Briten arbeiten, leider noch nicht umgesetzt werden kann.

Frage:

Dabei geht es auch um eine internationale Schutztruppe im Gazastreifen – ist eine Beteiligung Deutschlands denkbar?

Annalena Baerbock:

Uns alle, die auf einen Friedensplan hinarbeiten, treibt die Frage um: Wie sorgen wir dafür, dass sich der 7. Oktober nie mehr wiederholt. Dafür braucht es Sicherheitsgarantien: nicht nur für Israel, sondern auch für die Menschen in Gaza, die selbst unter dem Hamas-Terror leiden. Daher haben wir, ähnlich wie die USA und arabische Staaten deutlich gemacht, dass auch wir in Verantwortung für eine internationale Sicherheitsgarantie sind. Im Moment kann es noch gar nicht um konkrete Beteiligungen gehen. Aber natürlich reicht es nicht zu sagen: Darum sollen sich andere kümmern.

Interview: Markus Baiser und Paul-Anton Krüger

www.sueddeutsche.de

Schlagworte

nach oben