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Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der NATO

03.04.2019 - Rede

Hier heute über Perspektiven aus Berlin zu 70 Jahren NATO sprechen zu dürfen ist für mich ein besonderer Moment. Weil ich dabei an die Berlinerinnen und Berliner denken muss – und zwar an jene, die vor 30 Jahren in dieser Stadt lebten. Und deren Perspektiven kaum unterschiedlicher hätten sein können:

Da waren diejenigen, für die die NATO bereits über 30 Jahre lang Versprechen und gleichzeitig Gewissheit war, ein Garant für die Freiheit. Freiheit inmitten von Zäunen und Grenzposten. Und es gab jene, die für die Freiheit auf die Straße gingen, die demonstrierten, über Wochen, über Monate.

Dann fiel die Berliner Mauer und mit ihr ein marodes System. Der Drang nach Freiheit war zu groß, um ihn mit Mauern oder Zäunen einhegen zu können. Nach 28 Jahren der Trennung lagen sich alle Deutschen, diesseits und jenseits der Grenze endlich wieder in den Armen.

Meine Damen und Herren,

neben all den emotionalen Bildern, die jeder sofort mit diesem Ereignis verbindet, war es vor allem eines, was das Jahr 1989 den Menschen vor Augen führte: Freiheit, Frieden und Sicherheit sind miteinander verbunden – sie gehören zusammen.

Und es gab vermutlich in jener Zeit keinen Ort auf der Welt, an dem das so deutlich wurde, wie in Berlin, wo sich die Systeme unmittelbar gegenüberstanden.

Auch in den heißesten Phasen des Kalten Kriegs konnte sich die Bundesrepublik immer auf ihre Alliierten verlassen, auch bzw. gerade in Westberlin. Die letzten 70 Jahre haben auf beiden Seiten des Atlantiks gezeigt, was starke Allianzen wert sind. Dafür steht die NATO. „Niemals allein. Die Sicherheit jedes einzelnen ist die Sicherheit aller!“

Die NATO ist und bleibt der Grundpfeiler unserer Sicherheit und eine tragende Säule der transatlantischen Beziehungen. In keiner anderen Organisation arbeiten die Staaten Nordamerikas und Europas derart eng zusammen.

Ich freue mich sehr, dass heute mit Generalsekretär Jens Stoltenberg erstmals ein Vertreter einer multilateralen Organisation vor beiden Häusern des US Kongresses sprechen durfte. Das war ein wichtiges Signal.

Gerade in diesen Zeiten sind solche Zeichen von besonderer Bedeutung. Nicht nur, weil es unserem gemeinsamen Bündnis Rückendeckung gibt. Sondern auch weil es ein klares Bekenntnis zu multilateraler Zusammenarbeit ist.

Übrigens wird auch der Deutsche Bundestag morgen das 70-jährige Jubiläum des Nordatlantikvertrages würdigen und klar machen: Deutschland steht uneingeschränkt zum Bündnis in der NATO. Auf unsere Zusagen ist Verlass.

Ich weiß, unser Haushaltsverfahren ist für Außenstehende manchmal schwer zu verstehen – und glauben Sie mir: wahrlich nicht nur für Außenstehende!

Aber wir haben uns klar dazu bekannt, mehr Geld in Verteidigung zu investieren, und wir halten Wort. Wir in Europa wissen, dass unsere Sicherheit keine Selbstverständlichkeit ist und dass wir Verantwortung übernehmen müssen, um sie auch in Zukunft zu wahren – aus eigenem Interesse.

Darum haben wir den Trend sinkender Verteidigungsausgaben umgekehrt. Seit 2014 haben wir unsere Verteidigungsausgaben signifikant um beinahe 40 Prozent erhöht. Und unsere Verteidigungsausgaben werden weiter steigen – zunächst bis 2024 auf 1,5% des Bruttosozialprodukts.

Aber Lastenteilung ist mehr als Verteidigungsausgaben. Wer nach der Lastenteilung fragt, muss die gesamte Bandbreite von Ressourcen, Fähigkeiten, Beiträgen zu NATO Operationen und zur Bündnisverteidigung betrachten.

  • Als im Jahre 2001 nach den Anschlägen des 11. September das erste – und bislang einzige Mal der NATO-Bündnisfall ausgerufen wurde, waren wir in Solidarität mit unseren amerikanischen Freunden zur Stelle. Bis heute sind wir der zweitgrößte Truppensteller in Afghanistan. Auch an anderen NATO-Einsätzen sind wir substanziell beteiligt.
  • Deutschland ist neben den USA, Kanada und Großbritannien eine der vier Rahmennationen der Enhanced Forward Presence. Unsere Eurofighter fliegen als Teil des “Air Policing” über Estland.
  • Wir zeigen Verantwortung durch die Übernahme der Führung der schnellen NATO-Einsatztruppe (Very High Readiness Joint Task Force) in diesem Jahr.
  • Wir bauen in Ulm eine neue NATO-Kommandozentrale auf. Außer uns tun dies im Zuge der NATO-Kommandostrukturreform nur noch die USA.

Ich sage das hier noch mal in aller Deutlichkeit, dass uns diese Entscheidungen durchaus kontroverse Diskussionen abverlangen. Diese innenpolitischen Debatten sind mit Blick auf unsere deutsche Geschichte auch notwendig.

Statt allein über Bündnisfähigkeit und Bündniswilligkeit zu reden, sollten wir deshalb vor allem auch eines deutlich machen: Die NATO ist ein Sicherheits-, aber vor allem auch ein Wertebündnis. Sie hat auch eine politische Funktion.

Wir müssen uns daher auch der Herausforderung stellen, die NATO als Bündnis aufrechtzuerhalten, das gemeinsame Werte teilt und verteidigt – so wie sie in der Präambel des Washingtoner Vertrages niedergelegt sind: allen voran Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Nur wer nach innen geschlossen ist, ist nach außen stark.

Und das braucht es gerade dringend. Die NATO ist auch deshalb die erfolgreichste Verteidigungsallianz der Geschichte, weil sie sich immer wieder erfolgreich an veränderte Rahmenbedingungen abgepasst hat.

Der 360-Grad-Blick auf mögliche Gefahren hat heute die Front zwischen Ost und West, die wir aus Zeiten des Kalten Krieges kennen, abgelöst.

Viele der heutigen Herausforderungen sind global und machen nicht vor Landesgrenzen halt: Neue Technologien verändern die Kriegführung. In Zeiten von Big Data werden die Kriege der Zukunft auch mit Megabytes statt Megabomben gewonnen.

Wir sehen Angriffe im Cyberraum, Waffen im Weltraum, Terrorgefahr aus unterschiedlichsten Richtungen.

Und auch der Blick vor die Haustür ist aus europäischer Sicht im Moment nicht gerade vertrauenserweckend: da sehen wir besonders ein Russland, das neue Nuklearwaffen stationiert in unmittelbarer Nähe zu NATO-Grenzen, das den INF Vertrag gebrochen hat - der gerade für uns Europäer von besonderer Bedeutung ist -, das für die Anschläge von Salisbury verantwortlich ist und durch sein militärisches Eingreifen in der Ukraine vor fünf Jahren die Frage von Krieg und Frieden zurück auf den europäischen Kontinent gebracht hat.

Wir kennen auch die Sorgen gerade unserer mittelosteuropäischen Alliierten. Und wir nehmen diese Sorgen ernst. Deswegen hat die NATO gehandelt und haben wir Deutschen Verantwortung übernommen. Gerade in diesen Zeiten, in denen Russland unsere Einheit immer wieder auf die Probe zu stellen versucht, sollten und werden wir Einheit wahren.

Das heißt aber nicht, dass wir alle Dialogkanäle nach Moskau abbrechen sollten. Wenn sich das Sicherheitsumfeld verschlechtert, Regelungssysteme wegbrechen und Spannungen zunehmen, ist Sprachlosigkeit keine Option.

Daher setze ich mich auch weiterhin dafür ein, dass der NATO-Russland-Rat regelmäßig tagt und dass auch auf militärischer Ebene der Dialog nicht abreißt. Nur so lässt sich Transparenz aufrechterhalten und das Risiko einer ungewollten militärischen Eskalation mit katastrophalen Folgen minimieren.

Unsere Einheit sollten wir auch zu wahren versuchen, wenn es um eine weitere Großmacht geht. China wird „das“ Thema des 21. Jahrhunderts, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Hier gibt es auch sicherheitspolitische Implikationen, aber China ist auf fast allen Themenfeldern – vom Handel bis zur Klimapolitik – eine neue Herausforderung. Wir müssen ein besseres Verständnis bekommen, was das für die NATO bedeutet.

Gerade mit Blick auf ein mögliches Ende des INF-Vertrages, müssen wir begreifen, dass unsere gewohnte Welt aus den Angeln gehoben wird.

Wir müssen China deshalb auch mitdenken, wenn wir über Rüstungskontrolle reden und Abrüstung überhaupt erst wieder auf die Tagesordnung setzen.

Wir machen genau das. Seit Montag haben wir den Vorsitz im VN-Sicherheitsrat inne. Wir übernehmen Verantwortung. Wir helfen dabei, die europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in enger Abstimmung mit der NATO zu stärken – nicht als Konkurrenz sondern als Stärkung des europäischen Pfeilers in der NATO.

Und auch außerhalb bestehender Strukturen bringen wir gleichgesinnte Partner in einer Allianz der Multilateralisten zu verschiedenen sicherheitsrelevanten Themen wie Klimawandel und Rüstungskontrolle zusammen.

Dauerhafte Sicherheit entsteht dann, wenn wir zivile und militärische Mittel verzahnen. Wenn wir Konfliktprävention stärken, humanitäre Hilfe, Stabilisierung und Entwicklungszusammenarbeit verstetigen.

Das sind aus unserer Sicht wesentliche Facetten eines umfassenden Sicherheitsbegriffs. Und das ist sowohl effektiv und effizient. Das ist strategisch.

Jetzt ist es wichtig, die NATO zeitgemäß auszugestalten. Indem die NATO

  • Erstens: ihrer Kernaufgabe nachkommt, die Sicherheit unseres gemeinsamen Euro-Atlantischen Raums zu wahren. Hierbei übernimmt Deutschland auch in Zukunft Verantwortung.
  • Zweitens: die Politik der offenen Tür der NATO bleibt erhalten. Die jüngsten Beitritte von Montenegro und demnächst auch Nordmazedonien zeigen, wie attraktiv die NATO nach wie vor ist.
  • Drittens: auf neue Herausforderungen und Sicherheitsbedrohungen wie Klimawandel, Weltraumwaffen, Digitalisierung, hybride Einflussnahme oder Desinformationskampagnen Antworten findet.

Die NATO ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte, ohne Frage. Und zwar nicht nur, weil es Europa in den letzten 70 Jahre Stabilität gebracht hat. Sondern auch weil es sich wandelt und sich neuen Herausforderungen stellt.

Meine Damen und Herren,

George H.W. Bush hat einmal gesagt: „Wir wissen was funktioniert. Freiheit funktioniert. Wir wissen was richtig ist. Freiheit ist richtig.“

Das ist angesichts der inneren und äußeren Herausforderungen wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Es ist harte Arbeit. Aber die investieren wir gerne.

Dabei denke ich auch wieder an die Berlinerinnen und Berliner. Und wie unbeirrt sie ihre Stadt seit 30 Jahren zu einem Epizentrum der Freiheit machen. Ohne die NATO, ohne das transatlantische Bündnis wäre das kaum möglich gewesen.

Ohne die NATO hätte Deutschland im vergangenen Jahrhundert nicht das bekommen, was der Historiker Fritz Stern einmal die „zweite Chance“ nannte. Das ist ein ganz besonderes Verdienst der NATO in ihrer Geschichte. Wir Deutsche werden es nicht vergessen.

Vielen Dank!

[Die Rede wurde auf Englisch gehalten.]

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