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Rede von Außenminister Heiko Maas beim Start des deutsch-amerikanischen Holocaustdialogs

24.06.2021 - Rede

Mr. Secretary, dear Tony,
sehr geehrte Überlebende,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Meine Beziehung zu der bewegten, schmerzhaften und kraftvollen Geschichte dieser Nation ist verschwommen. Ich werde nie vergessen, wie sehr ich die mittelalterliche Stadt Nürnberg liebte, eine Stadt, die auch der Geburtsort der schrecklichen nationalsozialistischen Rassengesetze war. Ich weinte heimlich am Denkmal für die ermordeten Juden Europas und freute mich im Nachhinein über den deutschen Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft.“

Der damals 20-jährige amerikanische Student Avi Colomonos schrieb diese Zeilen 2014. Damals war er mit dem transatlantischen Programm „Germany close up“ nach Berlin gekommen, um zusammen mit anderen jungen Jüdinnen und Juden das Deutschland von heute kennenzulernen.

Was Avi Colomonos beschreibt, ist die Zerrissenheit, die mit dem Erinnern einhergeht. Zerrissenheit – zwischen Tränen und Freude. Zerrissenheit zwischen Geschichte, die schmerzt und trennt und die uns doch auch in unserer gemeinsamen Menschlichkeit berührt und auch wieder vereinen kann.

Und dennoch: Zu verstehen, wo wir herkommen, das ist – trotz aller Zerrissenheit – der beste Kompass, um zu bestimmen, in welche Richtung wir gehen wollen. Frei nach James Baldwin, der 1962 in der New York Times schrieb: “Not everything that is faced can be changed. But nothing can be changed, until it is faced”.

Die 2.710 Betonstelen dieses Denkmals für die ermordeten Juden Europas hinter uns zeigen uns, wo wir Deutsche herkommen und wofür wir Verantwortung tragen: die Geschichte millionenfachen Mordes, Grauens und Leids – unvergleichbar, unverrückbar in ihrer menschgemachten Monstrosität. Hier, zwischen diesen Stelen, die der große amerikanische Architekt Peter Eisenmann geschaffen hat, werden Beklemmung, Einsamkeit, Trauer, Verantwortung für jeden fast körperlich spürbar. Ja, Erinnern kann wehtun. Und Erinnern soll auch wehtun. Denn Erinnern ist auch eine Zerreißprobe.

Und zugleich stehen wir heute hier, Seite an Seite - Amerikaner und Deutsche, Juden, Muslime, Christen und Atheisten - vereint im gemeinsamen Erinnern. Vereint im Glauben an Werte wie Freiheit, Demokratie und Toleranz. Vereint auch im Willen, auf diesem Wertefundament eine bessere Zukunft zu bauen. Darauf fußt Europa. Darauf fußt unsere transatlantische Freundschaft.

Lieber Tony,
ich weiß, wie sehr die persönlichen Erfahrungen Deiner Familie mit dem Holocaust Dein tägliches Handeln prägen. Du hast gerade davon berichtet. An Deinem ersten Tag im Amt des Außenministers der Vereinigten Staaten hast Du gesagt, dass „die Macht einer Nation nicht nur an ihrem Militär oder ihrer Wirtschaft gemessen wird, sondern an ihren moralischen Entscheidungen“.

Das Stelenfeld hinter uns ist die in Stein gegossene Bestätigung dieses Satzes. Die Kraft Amerikas, die Kraft Deutschlands und Europas – sie entsteht nicht daraus, Geschichte zu glorifizieren oder die Irrwege der Vergangenheit auszublenden, von denen keiner in so tiefe Abgründe führte wie der Holocaust.

Unsere Stärke liegt vielmehr darin, die Last der historischen Verantwortung zu schultern – ohne Wenn und Aber, ohne Schlussstrich. Unsere Stärke liegt vielmehr darin, unsere Kräfte zu bündeln auf der Suche nach dem besten Weg und das am besten gemeinsam.

Ich freue mich deshalb sehr, lieber Tony, dass wir heute an diesem besonderen Ort, im Land der Täter, einen Deutsch-Amerikanischen Dialog über Holocaustfragen ins Leben rufen.

Eine der drängendsten Aufgaben wird dabei sein, unsere Erinnerungskultur auf eine Zeitenwende vorzubereiten. Die Stiftung Denkmal mit ihrem Direktor Dr. Uwe Neumärker und das United States Holocaust Memorial Museum leisten hier täglich Herausragendes. Auch das American Jewish Committee mit unserem Freund David Harris sowie das Leo Baeck Institut mit William Weitzer setzen sich mit uns für eine lebendige Erinnerungskultur ein.

Für diese Ansätze und für all die Arbeit bin ich sehr dankbar, denn: Persönliche Beziehungen mit Zeitzeugen werden künftigen Generationen nicht mehr vergönnt sein. Was für ein Verlust!

Aber auch was für ein Auftrag an uns, neue Formen des Erinnerns zu finden, die nicht zulassen, dass persönliche Schicksale verblassen. Niemals. Dies schulden wir den Ermordeten und den Überlebenden - und es freut uns und es ehrt uns sehr, liebe Margot Friedländer, lieber Herr Gardosch, liebe Petra und Frank Michalski Sie heute unter uns zu wissen. Und wir schulden es unseren Kindern und unseren Enkeln, die wir so gut es geht vor den Fehlern der Vergangenheit zu bewahren haben.

Wir haben in den letzten Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks erlebt, wie Antisemitismus und Rassismus sich in unsere Gesellschaften fressen können.

Denken wir an die gelben Sterne auf Corona-Demonstrationen, an die Flut antisemitischer Verschwörungstheorien im Netz, an die Angriffe auf Synagogen und Jüdinnen und Juden, an die Randalierer vor dem Bundestag oder an den enthemmten Mob im US-Kapitol.

Die amerikanische Philosophin Susan Neiman, Präsidentin des Einstein-Forums in Potsdam und eine der klügsten transatlantischen Stimmen in diesem Land, hat uns schon vor einigen Jahren einen – wie ich finde – guten Rat mit auf den Weg gegeben. Nämlich „dem Bösen“ – und nichts anderes sind Rassismus und Antisemitismus – „jede Rechtfertigung und jedes Gewichten zu verweigern“.

Nur so - und nicht durch Tatenlosigkeit, Schweigen oder Relativieren oder noch schlimmer Gleichgültigkeit - werden wir die Kräfte bändigen, die unsere Gesellschaften spalten wollen.

Dabei hilft das, was wir heute hier tun. Natürlich ist Erinnern kein Allheilmittel, um Menschen oder Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit zu befrieden. Es bleibt und es muss bleiben eine Zerreißprobe.

Aber gemeinsam mit Freundinnen und Freunden zu erinnern – so wie wir es heute hier tun – vereint uns in dieser Zerrissenheit. Es stärkt uns. Und es stärkt vor allen Dingen unsere Gesellschaften für die Zukunft.

Vielen Dank.

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