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Polens unglaubliche Widerstandskraft und historischer Einsatz für Freiheit und Selbstbestimmung

31.07.2019 - Interview

Außenminister Heiko Maas im Interview mit der Grupa Wirtualna Polska.

Sie kommen am Vorabend des 75. Jahrestags des Warschauer Aufstands nach Polen. Was bedeutet Ihnen das als Deutscher und deutscher Außenminister?

Es ist ja keineswegs selbstverständlich, als deutscher Außenminister zu diesem Jahrestag eingeladen zu werden. Dafür bin ich Jacek Czaputowicz sehr dankbar. Zunächst einmal denke ich in Demut an die Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben. Die Zerstörung Warschaus war ja der Tiefpunkt eines Krieges, der von Anfang an ein auch mit aller Härte und Rassenideologie gegen die Zivilbevölkerung geführter Krieg war. Es ist mir aber auch wichtig daran zu erinnern, dass Polen während des Aufstandes, aber auch während des gesamten Zweiten Weltkrieges eine unglaubliche Widerstandskraft und einen historischen Einsatz für Freiheit und Selbstbestimmung in Europa gezeigt hat. Polnische Soldaten haben nicht nur an allen Fronten, sondern auch in der Heimatarmee in Polen mutig gekämpft. Der Warschauer Aufstand steht stellvertretend dafür.

Die Auswirkungen dieser Zerstörungen kann man noch heute sehen. Die polnische Regierung hat wiederholt die Frage nach Reparationsleistungen ins Gespräch gebracht. Deutschland antwortete wiederholt, es betrachte diese Frage als rechtlich abschließend geklärt. Aber sind Sie der Meinung, dass die Frage – der deutschen Zerstörung und Verantwortung – auch moralisch und politisch – abschließend geklärt ist?

Juristisch ist das Thema, wie Sie sagen, für Deutschland abgeschlossen. Aber die Erinnerung und die Aufarbeitung, sei es wie jetzt bei meinem Besuch hier in Warschau oder immer wieder in Deutschland, die wird für uns niemals abgeschlossen sein. Deutschland steht moralisch zu seiner Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Wir dürfen in Deutschland nie das Leid vergessen, das wir im Zweiten Weltkrieg über das polnische Volk gebracht haben. Es ist mir auch persönlich ein großes Anliegen, dass auch die junge Generation mehr darüber erfährt und die Erinnerung wachhalten kann, auch wenn eines Tages die letzten Zeitzeugen von uns gegangen sind.

Die EU hat erstmals seit Walter Hallstein eine deutsche Kommissionspräsidentin, was zu Diskussionen über die Vorherrschaft Deutschlands innerhalb der EU geführt hat. Hinzu kommt die Tatsache, dass Mittel- und Osteuropa keinen einzigen Spitzenposten bekommen hat. Hat das mit den Kontroversen um die Rechtsstaatlichkeit in Polen und anderen Ländern der Region zu tun? Wie kann diesem Ungleichgewicht entgegengewirkt werden?

Ich habe den Eindruck, dass Polen die Wahl der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sehr begrüßt hat, bei ihrem Besuch in der vergangenen Woche wurde sie ja hier in Warschau durchaus herzlich empfangen.

Ich bin seit meinem Amtsantritt im letzten Jahr nun das fünfte Mal in Polen zu Besuch – wir haben uns für unsere engen Beziehungen eine sehr ambitionierte Agenda vorgenommen, dies haben wir mit den deutsch-polnischen Regierungskonsultationen in November 2018 eindrucksvoll unterstrichen. Ja, es gibt auch kritische Themen, über die wir offen miteinander sprechen müssen, dazu gehört auch das Thema Rechtsstaatlichkeit. Aber genau das gehört auch zu einer starken und ehrlichen Partnerschaft dazu. Und als Europäische Union können wir uns nur dann erfolgreich für Wohlstand und Frieden einsetzen, wenn wir uns zuhören und uns gegenseitig stärken.

Im vergangenen Monat haben Sie die Rückkehr Russlands in die Parlamentarische Versammlung des Europarats unterstützt. Während des Petersburger Dialogs kamen Sie mit Ihrem russischen Kollegen zusammen und sagten, Russland sei unerlässlich für die Lösung der Probleme der Welt. Wird Russland damit für sein schlechtes Benehmen, an dem sich seit Jahren nichts ändert, nicht noch belohnt? So wurde am Wochende mit brutaler Polizeigewalt in Demonstrationen in Moskau eingegriffen. Bedauern Sie die Entscheidung angesichts der Ereignisse?

Große Sorge machen uns die Berichte, wonach russische Sicherheitskräfte am Wochenende über 1.000 friedliche Demonstranten in Moskau festgenommen haben. Die Polizei soll dabei unverhältnismäßig hart vorgegangen sein. Russische Bürgerinnen und Bürger müssen fair und frei wählen dürfen. Menschen, die sich dafür einsetzen, dürfen nicht eingeschüchtert werden. Russland hat sich in seiner Verfassung selbst, aber auch international zur Einhaltung der Bürgerrechte verpflichtet, unter anderem indem es die Prinzipien des Europarats und der OSZE anerkannt hat.

Der Europarat ist seit 70 Jahren zentral für die gesamteuropäische Zusammenarbeit. Er setzt Standards für Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte in ganz Europa. Die Mitgliedschaft verpflichtet auch Russland zu diesen Standards. Wir hören aus der russischen Zivilgesellschaft immer wieder, wie wichtig der Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist. Über 140 Millionen russische Bürgerinnen und Bürger können sich dort Recht verschaffen, wenn der Rechtsweg in Russland ausgeschöpft ist. Diese Möglichkeit wird tatsächlich genutzt, über 13.000 aktuelle Verfahren belegen das. Eine deutliche Mehrheit im Europarat hat sich für die Teilnahme aller Delegationen - auch der russischen - an der Plenarsitzung der Parlamentarischen Versammlung ausgesprochen, darunter Polen und Deutschland. Wir haben dennoch eine klare Haltung gegenüber Russland. Dazu gehört, dass wir die Annexion der Krim klar verurteilen. Wir werden diesen Völkerrechtsbruch nicht hinnehmen. Die EU hat gerade deshalb und wegen der Rolle in der Ost-Ukraine kürzlich die Sanktionen gegen Russland verlängert.

Um auf den Krieg zurückzukommen – das Vereinigte Königreich hat kürzlich einen neuen Premierminister ernannt. Boris Johnson, der sich auf Churchill beruft, behauptet, Großbritannien brauche nur Selbstvertrauen und müsse den gemeinschaftlichen „Geist von Dünkirchen“ wiedererwecken, um den Brexit aus der Sackgasse zu führen. So, glaubt er, könne er das Austrittsabkommen neu verhandeln und der EU dabei günstigere Bedingungen wie die Abkehr vom Backstop abringen. Wie soll die EU auf diese Herausforderung reagieren, wenn als Alternative ein ungeregelter Brexit im Raum steht?

Der Ball liegt derzeit nicht im Feld der EU, sondern wir brauchen endlich Klarheit über den Kurs Großbritanniens. Schließlich gibt es bereits ein verhandeltes Austrittsabkommen, das ein fairer und ausgewogener Kompromiss ist. Es ermöglicht einen geordneten Austritt und verhindert einen harten Brexit, der für beide Seiten viele Nachteile hätte. Teil des Abkommens ist auch der „Backstop“ für die Grenze zwischen Irland und Nordirland. Wir brauchen diesen Backstop, um zu verhindern, dass es an dieser historisch sensiblen Grenze wieder Schlagbäume und Grenzzäune gibt – daran kann auch die neue britische Regierung kein Interesse haben.

Ein anderes Kriegsthema: Iran. Die USA wollen, dass Deutschland sich an einer internationalen Mission in der Straße von Hormus beteiligt. Vorher gab es Meldungen, Deutschland habe diesen Vorschlag auf NATO-Ebene zurückgewiesen. Angeblich aus Sorge, die NATO könne in eine Konfrontation mit Iran gezogen werden. Wie groß ist das Risiko einer solchen Konfrontation Ihrer Meinung nach? Geben allein die Vereinigten Staaten Anlass zu Spannungen?

Die Gefahr ist sehr real, dass die aktuellen Spannungen am Golf zu einer kriegerischen Auseinandersetzung eskalieren, die verheerende Folgen für die ganze Region und mittelbar auch für Europa hätte. Alle sagen, dass sie keinen Krieg wollen, aber derzeit sind es hauptsächlich die Europäer, die diplomatisch für eine Deeskalation arbeiten. Dafür müssen wir uns unsere eigenständigen Handlungsspielräume als Europäer erhalten. Deshalb wollen wir uns nicht an der amerikanischen Strategie des „maximalen Drucks“ beteiligen. Wir konzentrieren uns darauf, wie wir diplomatische Spielräume und Gesprächskanäle offen halten können, um so letztlich auch zur maritimen Sicherheit beizutragen.

Von Vertretern der Bundesregierung haben wir wiederholt gehört, die Vereinigten Staaten seien nicht länger der Bündnispartner, auf den man sich uneingeschränkt verlassen könne, daher müsse Europa Sicherheitsbelange selbst in die Hand nehmen. Ist das überhaupt möglich, wenn man nicht zuletzt das mangelnde Tempo bei der Ertüchtigung der Bundeswehr betrachtet? Oder ist die Präsidentschaft Trumps vielleicht nur ein vorübergehender Fehler im System?

Die USA bleiben der wichtigste Partner der Europäischen Union. Aber die transatlantischen Beziehungen verändern sich, nicht erst seit der Wahl von Donald Trump. Für Europa heißt das, dass wir mehr Verantwortung für uns und für unsere Verbündeten in der Welt übernehmen müssen. Ein starkes, souveränes und gleichzeitig solidarisches Europa werden wir nur geschlossen als Europäer, als Europe United, erreichen. Deshalb arbeiten wir auf europäischer Ebene intensiv an einer engeren Abstimmung und einer Verbesserung unserer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Unser gemeinsames Ziel muss es sein, den europäischen Pfeiler der NATO stärken.

Das Original-Interview auf Polnisch finden Sie hier.

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