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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth beim Empfang zum französischen Nationalfeiertag

14.07.2018 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Meine Damen und Herren,
von Herzen gratuliere ich Ihnen heute am 14. Juli - auch im Namen der Bundesregierung - zum französischen Nationalfeiertag. Womöglich gibt es an diesem Wochenende für Frankreich ja noch viel mehr zu feiern, aber das werden wir dann erst morgen Abend nach dem Abpfiff des WM-Finales in Moskau wissen.

Meine Damen und Herren,
wir leben in einer Zeit, in der wir uns manchmal verloren vorkommen. Wer sind wir? Was ist aus unserer Heimat geworden? Was wird aus Europa? Wie geht es weiter in dieser Welt? Wir haben es mit dramatischen Veränderungen in unserer Nachbarschaft zu tun. Nationalismus und Populismus haben sich tief in unsere Gesellschaften und demokratischen Systeme eingefressen.

So manche Gewissheiten sind uns in den vergangenen Jahren abhanden gekommen – ob es um die Verlässlichkeit von internationalen Übereinkünften und langjährigen Partnern oder um den inneren Zusammenhalt in der Europäischen Union geht.

Je mehr die Welt um uns herum in Unordnung gerät, desto mehr sehnen wir uns nach einem Kompass, der uns sicher durch diese stürmischen Zeiten leitet. „Liberté, Égalité, Fraternité“ - für diese Werte sind Französinnen und Franzosen 1789 in den Kampf gezogen. Sie haben nicht nur Frankreich revolutioniert, sondern die Seele Europas tief geprägt. Dass Europa weniger ein Wirtschaftsprojekt ist, sondern vielmehr eine Wertegemeinschaft, haben wir auch den Frauen und Männern zu verdanken, die vor 229 Jahren die Bastille erstürmten. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind kein Erbe, das es allein zu pflegen und zu bewahren gilt. Auch heute noch können die Werte der französischen Revolutionen Orientierung für unser Zusammenleben in Europa geben.

Freiheit – die Freiheit jedes Einzelnen in unserer Gesellschaft, ohne Angst vor Diskriminierung oder gar Gewalt, seine Meinung äußern und seinen Glauben leben zu können.

Wenn ich heute über Freiheit spreche, möchte ich an Simone Veil erinnern. Ein Jahr nach ihrem Tod haben Tausende Menschen in Paris die Grande Dame der Französischen Republik, eine leidenschaftliche Europäerin, in die Pariser Ruhmeshalle Panthéon begleitet und ihr die letzte Ehre erwiesen. Die Holocaust-Überlebende hat ihr Leben lang für Freiheit gekämpft. Und nicht zufällig hat Sie sich für Europa und die europäische Idee engagiert: Die Europäische Union ist eben das wunderbare Produkt einer tiefen Sehnsucht nach Emanzipation und versöhnter Verschiedenheit. Europäische Grundwerte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind das Herzstück Europas.

Doch unsere Freiheit, ein Leben ohne Zwang und Unterdrückung, Angst und Terror, Armut und Gewalt, ist mitnichten ein Selbstläufer, sie muss im Großen wie im Kleinen jeden Tag aufs Neue gepflegt und verteidigt werden. Nicht überall fühlt man sich den europäischen Werten noch vorbehaltlos verpflichtet. In manchen europäischen Staaten stehen die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit und die Zivilgesellschaft derzeit unter massivem Druck.

Wir, Deutsche und Franzosen, stehen in der historischen Verantwortung, nicht einfach wegzuschauen, sondern unsere Freiheit entschlossen zu verteidigen. Das ist unsere Lehre aus der Französischen Revolution und auch aus zwei grausamen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Wir sind uns einig: Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind kein „nice-to-have“, sondern der unverhandelbare Kern der Europäischen Union. Sie machen uns zu dem, was wir sind - und hoffentlich bleiben wollen.

Gleichheit – im Sinne der Charta der Menschenrechte: Alle Menschen sind gleich an Würde und Rechten geboren. Ethnie, Glauben, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, kulturelle Prägung oder Herkunft dürfen keinen Einfluss darauf haben, wie wir unser Gegenüber behandeln.

Und trotz dieses großen Versprechens leben wir in einer Welt, in der derzeit fast 70 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Terror und Menschenrechtsverletzungen sind. Wir leben in einer Welt, in der Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung, Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung unterdrückt, verfolgt und ermordet werden.

Insbesondere die große Anzahl von Flüchtlingen und Migranten, die seit 2015 nach Europa gekommen sind, hat uns in Deutschland und Frankreich vor eine gewaltige Aufgabe – und ja, auch unser Bekenntnis zur Gleichheit auf die Probe gestellt.

Viele dieser Menschen werden für längere Zeit, manche sogar dauerhaft, bei uns bleiben. Es ist eine Riesenaufgabe – und das übrigens nicht nur für die heimische Bevölkerung, sondern auch für die Menschen, die zu uns kommen.

Natürlich kann die Aufnahme einer so großen Anzahl von Zuwanderern nicht völlig konfliktfrei ablaufen. Und auch dazu verpflichtet uns der Grundsatz der Gleichheit: Es darf in unseren Ländern nicht der Eindruck entstehen, dass die Politik rasch und unbürokratisch Geld für Unterkunft, Qualifizierung und Beschäftigung von Geflüchteten bereitstellt, während gleichzeitig Schwimmbäder geschlossen und die Toiletten in den Schulen nicht saniert werden. Kommunen, Bürgerinnen und Bürger, die viel tun für Integration, dürfen mit ihren Problemen nicht allein gelassen werden.

In Deutschland haben wir über die Jahrzehnte unsere eigenen Erfahrungen gemacht mit Einwanderung und Integration – gute wie schlechte. Mit vielen Erfolgsgeschichten von gelungener Integration können wir durchaus aufzeigen, welche vielfältigen Chancen Zuwanderung mit sich bringt. Selbstkritisch will ich aber auch sagen: Nicht alles ist dabei perfekt gelaufen. Manches ist sogar schlicht misslungen. Wir haben in Deutschland eine Menge lernen müssen. Und wir haben es erst sehr spät lernen wollen.

Deutschland und Frankreich haben ganz unterschiedliche Wege und Modelle gewählt, mit Zuwanderungen und Integration umzugehen. Aber auch bei diesem Thema wollen wir miteinander und voneinander lernen.

Und schließlich Brüderlichkeit – oder wie wir heute eher sagen: Solidarität. Europa ist gebaut auf dem Grundsatz der Solidarität. Wir Europäerinnen und Europäer stehen füreinander ein. Diese Solidarität setzt die Bereitschaft voraus, die Zukunft miteinander gestalten zu wollen.

Insbesondere wohlhabende Länder wie Deutschland und Frankreich, die zu den großen Nettogewinnern des Binnenmarkts und der Währungsunion zählen, stehen in der Verantwortung, Europa solidarisch zu gestalten. Deshalb darf es uns auch nicht gleichgültig sein, wenn in manchen Ländern Südeuropas immer noch die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos ist oder wenn ein polnischer Bauarbeiter auf unseren Baustellen für dieselbe Arbeit weniger Lohn bekommt als sein einheimischer Kollege.

Solidarität ist aber mitnichten nur eine großherzige Geste vermeintlich Starker gegenüber vermeintlich Schwächeren. Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern immer ein Geben und Nehmen. Ob groß oder klein, stark oder schwach, Westen oder Osten – wir alle brauchen einander in Europa. Auch Deutschland und Frankreich erwarten in bestimmten Fragen die Solidarität der europäischen Partner – das erleben wir gerade in den Debatten über die Steuerung der Migration. Solidarität ist das wichtigste Bindemittel in einer bunten und vielfältigen Union. Denn ohne die Bereitschaft, verlässlich füreinander einzustehen, kann in Europa nichts gelingen.

Meine Damen und Herren,
für Deutschland und Frankreich als ehemalige Erzfeinde war Versöhnung der erste Schritt zur Brüderlichkeit. Wie kein zweiter steht der Elysée-Vertrag, der vor 55 Jahren in Kraft getreten ist, für Versöhnung und Verständigung zwischen unseren Ländern. 1963 war ein echter Neuanfang.

Und die Versöhnung ist ja nicht in erster Linie das Werk von Regierungen, sondern vor allem von den vielen engagierten Brückenbauerinnen und Brückenbauern in der Zivilgesellschaft, die durch Städtepartnerschaften, Schüleraustausche und andere gemeinsame Projekte, dabei mitgeholfen haben, dass aus Feinden Freunde geworden sind.

Unsere Freundschaft müssen wir aber immer wieder erneuern, sonst erlahmt sie irgendwann. Der Idee eines neuen Elysee-Vertrags haben sich inzwischen viele Unterstützerinnen und Unterstützer angeschlossen.

Wenn 1963 noch die Aussöhnung im Vordergrund stand, so ist es in der Welt von heute die gemeinsame Verantwortung Deutschlands und Frankreichs für Europa. Denn ohne Frankreich und Deutschland läuft es in der EU nicht rund. Deshalb soll der neue Vertrag eben nicht alleine dem deutsch-französischen Verhältnis dienen, sondern auch über unsere Länder hinaus Wirkung entfalten. Wenn wir uns als ein Labor verstehen, in dem neue Ideen erprobt werden, dann können wir unseren europäischen Partnern Mut machen: gemeinsame Lösungen sind allemal besser als nationale Alleingänge.

Und warum stellen wir diesen Neuanfang nicht auch wieder unter das Leitmotiv der Französischen Revolution? Denn: Freiheit, Gleichheit und Solidarität – das ist auch so etwas wie die Kurzformel des europäischen Traums.

Der amerikanische Traum verspricht Freiheit, der chinesische Traum verspricht Wohlstand. Europas Hoffnungsversprechen beruht dagegen auf zwei Säulen, die sich gegenseitig bedingen und ergänzen: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit einerseits, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand andererseits. Genau das ist Europa. Und wo gibt‘s das sonst?! Kämpfen wir dafür, friedlich und respektvoll, aber ganz im Geiste der Frauen und Männer, die vor 229 Jahren Geschichte geschrieben haben.

Es lebe die deutsch-französische Freundschaft! Vive l’amitié franco-allemande! Vive l’Europe!

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